Kip Winger musste in den Anfangstagen seiner Band eine Tonne unberechtigte Kritik und Häme über sich ergehen lassen. Der singende Multiinstrumentalist und Komponist trotzte jedoch dem harten Gegenwind und beweist mit dem frischen SEVEN einmal mehr, dass Winger musikalisch zur absoluten A-Liga zählen.
Kip, SEVEN erscheint knapp zwei Monate vor dem 35. Jubiläum eures Debüts WINGER von 1988.
In diesen dreieinhalb Dekaden haben meine Gruppe und ich eine Menge Songs geschrieben und aufgenommen. Wenn ich unsere Karriere im Rückspiegel betrachte, fühle ich mich geehrt, dass ich mit so tollen Musikern zusammenarbeiten durfte. Für mich persönlich zählen unsere Platten sogar noch etwas mehr als die unzähligen Liveshows, die wir seitdem gespielt haben.
Warum gab es dann eine knapp neunjährige Studiopause zwischen BETTER DAYS COMIN’ (2014) und SEVEN?
Ich nehme keine LPs ohne Grund auf oder werfe, nur um die Zeit zwischen zwei Platten zu überbrücken, irgendwelche Überbleibsel aus vergangenen Sessions auf den Markt. Aufgrund von Reb Beachs (Leadgitarrist und Co- Komponist; Anm. d. Verf.) Engagement bei Whitesnake und meinen Klassikprojekten lagen Winger ein paar Jahre fast komplett auf Eis. Die ersten freien Termine fanden sich erst wieder 2019 in unseren Kalendern. Nebenbei bemerkt, wäre SEVEN ohne die COVID-19-Pandemie wahrscheinlich viel früher herausgekommen.
SEVEN ist in seiner Gesamtheit kein Album, das man mal eben „nebenbei“ komponiert und produziert. Wie viele Stücke habt ihr im Vorfeld der finalen 12-Track-Selektion aufgenommen?
Es gibt zwar das ein oder andere Outtake, das es nicht auf die Scheibe geschafft hat, aber die harte Nuss stellten eindeutig die Texte dar. Eigentlich sollten 14 Lieder auf SEVEN drauf sein. Die zwei Gestrichenen sind wegen unfertiger Lyrics verworfen worden. Ich bin bei diesem Aspekt noch viel kritischer als in Sachen Instrumentierung. In der Regel merke ich sofort, ob ein Einfall funktioniert oder eben nicht. Die zwölf Stücke jetzt sind gute Beispiele dafür, wie sich eine Komposition vom ersten Geistesblitz bis zur komplett fertiggeschriebenen und arrangierten Version entwickelt. Bei den beiden geschassten Exempeln wollte sich bei mir auch mit viel Geduld und Hingabe partout kein gutes Gefühl einstellen.
Deine Texte behandeln seit PULL (1993) keine typischen Hardrock-Themen.
Das Wörtchen Hardrock ist im Kontext mit Winger oder mir als Person sehr interessant. Ich sehe mich nämlich nicht als Hardrocker. Meine musikalischen Wurzeln reichen von Künstlern wie Peter Gabriel bis zu Black Sabbath. Was mich an diesen beiden Eckpfeilern meiner Inspiration seit jeher fasziniert, ist der lyrische Erzählcharakter. ›Seventeen‹ wurde damals zum Beispiel ein großer Hit. Allerdings bin ich damit textlich ganz und gar nicht mehr zufrieden. Das Lied hat der breiten Masse von mir als Komponist und Musiker einen total falschen Eindruck vermittelt. ›Seventeen‹ ist unterm Strich eine schnell geschriebene Nummer, die eigentlich überhaupt nichts aussagt. Danach habe ich mich lieber auf von mir oder von Freunden und Bekannten erlebte Ereignisse oder Begebenheiten als Kern meiner Lyrics konzentriert. ›Do Or Die‹ von SEVEN etwa dreht sich um die Erlebnisse eines meiner besten Freunde, ›It All Comes Back Around‹ hat Karma als Thema.
Du scheinst dein Handeln stetig zu reflektieren.
Ich besitze wohl eine recht philosophische Art, auf Dinge und Lebenserfahrungen zu schauen. Deswegen arbeite ich, bevor ich mich an den tatsächlichen Text eines Songs mache, eine Art Storyboard aus. Dabei nehme ich stets eine enorm persönliche Perspektive ein, zu der jedoch jeder Hörer einen Zugang finden kann. Im Prinzip sind ja alle Menschen ziemlich gleich. Es gib vielleicht fünf, sechs oder sieben Unterkategorien an Charakteren, in die um die neun Milliarden Erdenbürger fallen. Da ist es nur allzu verständlich, dass mein Fokus auf Thema XYZ von unzähligen Personen verstanden wird und sie sich darin wiederfinden.
Die SEVEN-Texte sind überwiegend nachdenklich und manchmal auch sehr düster gehalten.
So habe ich die Platte noch gar nicht betrachtet. Für mich ist etwa ›It’s Okay‹ ein ziemlich leicht zu konsumierender Track, der jedoch eine nicht zu verachtende Botschaft in sich trägt. Es geht darum, dass das ganze Leben eine Illusion ist und die Dinge, die wir tagtäglich sehen, nicht der Realität entsprechen. Ein Stück wie ›Tears Of Blood‹ schlägt jedoch genau in die erwähnte Kerbe – hart und düster wie die Zeilen, die ich singe. Dieser Ansatz steht – wie vorhin angesprochen – im kompletten Gegensatz zu den Anfangstagen von Winger. Ich bin inzwischen 61 Jahre alt und habe wirklich eine Menge Scheiße in meinem bisherigen Dasein erlebt. Mir ist es schlichtweg unmöglich, irgend so ein „Let’s party – we drink on Friday night“-Zeugs zu schreiben … Das bin einfach nicht ich.
Zu dieser ernsthaften Herangehensweise passt auch dein zweites Standbein als Klassikkomponist.
Bevor 2010 mein erstes Stück von einem Orchester vor Publikum gespielt wurde, habe ich zwölf Jahre lang intensiv klassische Musik und Instrumentierung studiert. Seitdem sind fast alle meiner Kompositionen aufgeführt worden. Bald wird mein neues Klassikalbum – gespielt vom Nashville Symphony Orchestra – erscheinen.
Was ist dein Geheimnis, in zwei so unterschiedlichen Welten wie Rock und Klassik erfolgreich zu sein?
Wenn ich’s mir recht überlege, bin ich ein Fisch, der in zwei Teichen lebt. Ich gehöre weder komplett ins eine noch gänzlich ins andere Genre und fühle mich in beiden gleichzeitig sehr wohl.
Hast du jemals in Erwägung gezogen, beides zu vereinen?
Nicht wirklich. Ich finde das ehrlich gesagt ziemlich cheesy, wenn eine Rockband mit einem großen Orchester im Hintergrund spielt. Unter Umständen könnte ich mir vor- stellen, einzelne klassische Instrumente in den Rock-Kontext zu integrieren. Für diese fiktive Besetzung müsste ich dann allerdings ein komplett neues musikalisches Konzept ausarbeiten und frische Stücke komponieren. Bereits bekannte Lieder würde es bei einem Projekt dieser Art mit Sicherheit nicht geben.
Es gab euch leider nicht als Co-Headliner auf der letztjährigen Skid-Row-Tour zu sehen. Ihr seid ohne Newsmeldung von den Plakaten verschwunden …
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum die Shows mit uns im Programm beworben wurden. Es war zu keinem Zeitpunkt geplant, dass wir in Deutschland auftreten – obwohl wir euer Land lieben und megagerne wieder in der Bundesrepublik spielen würden. Ursprünglich sollten wir mit den Skids im United Kingdom auftreten. Allerdings hat uns der zuständige Promoter weder die Verträge noch einen Vorschuss für Flugtickets, Fracht und so weiter geschickt. Auf Nachfrage kam dann endlich ein Vertrag, der uns unterm Strich ein Minus von $35.000 eingebracht hätte … Also legten wir den Sprung über den großen Teich ad acta. Falls sich ein Promoter in Deutschland findet, der sich nach 13 Jahren Winger-Abwesenheit traut, uns zu buchen, wäre das eine ganz feine Sache. Hey, ich liebe Deutschland und spreche sogar ein paar Brocken Deutsch.