Der freche kleine Cousin des Pop-Rock ist eines der zugänglichsten Genres der Rockmusik, aber gar nicht so leicht zu definieren.
Eingezwängt irgendwo zwischen Pop-Rock und Post-Punk, muss man den Powerpop erst mal festnageln. War er schon Anfang der 70er im fröhlichen Kitsch der Raspberries und Shoes zu hören? Fing er mit den grandiosen Big Star an? Oder waren es vielleicht Cheap Trick, die ihn in einem fußtappenden Moment frecher Vergnüglichkeit zusammenbrauten? Möglicherweise begann er mit der neuen Welle des Pomp, eingeläutet von diesen cleveren College-Jungs mit dem messerscharfen Seitenscheitel und zu engen Jacken: The Cars. Wenn man den „Power“-Aspekt betont, schließt man dann die Buzzcocks mit ein? Geht der „Pop“-Aspekt bis hin zu Blondie? Niemand weiß es so genau. The Strokes könnten behaupten, die Powerpop-Revivalisten zu sein, doch wessen Musik lassen sie da wieder auferstehen? The Knack? The Vibrators? 20/20?
Powerpop ist ein Genre, in dem die Vertreter an einem Ende des Spektrums rein gar nichts mit denen am anderen zu tun haben. Es ist der durchgeknallte, fetzige kleine Cousin von Pop-Rock und Pop-Metal, der widerwillig zu Familienfesten kommt und dann in einer Ecke steht und den Kopf wippen lässt zu der Musik, die gerade aus seinen Kopfhörern kommt. Doch Moment, der Knirps hat interessierten Hörern dennoch einiges zu bieten – vor allem denen, die bereit sind, auf der Suche nach unkategorisierbaren Kleinoden die Grenzen des Schubladendenkens zu verwischen. Für Sammler und Kultsucher, Individualisten und Besessene ist Powerpop eine wahre Schatztruhe. Und anders als die meisten Stilrichtungen hat er seine Wurzeln in den 70ern, nicht in den Dekaden davor.
Den Begriff an sich hat angeblich Pete Townshend 1967 erfunden („Powerpop ist das, was wir spielen“), auch wenn The Who nie damit in Verbindung gebracht wurden. Stattdessen wurde er für aufkommende Bands wie Badfinger verwendet, die als Schützlinge von Paul McCartney anfingen, dann aber härter und rifflastiger wurden – ›No Matter What‹ von ihrem ersten Album NO DICE könnte man als prägende Nummer für das Genre einordnen. Ihr Album STRAIGHT UP von 1971, das auch in diese Liste gepasst hätte, coproduziert von George Harrison und Todd Rundgren, war ebenso ein Meilenstein des Powerpop.
Rundgren gehörte zu den eifrigsten Verfechtern, ebenso wie Big Star, Raspberries, die Flamin’ Groovies und Dwight Twilley. Cheap Trick brachten dann 1979 mit AT BUDOKAN perfekt auf den Punkt, was die meisten Leute unter Powerpop verstehen, und The Cars sowie Rick Springfield traten etwa zur gleichen Zeit ins Rampenlicht.
Als Pete Shelley von den Buzzcocks ›Ever Fallen In Love (With Someone You Shouldn’t’ve‹ schrieb, waren die Tore schon weit geöffnet – und New Wave, Punk, Post- Punk und College-Rock bedienten sich alle fleißig beim Powerpop-Sound der 70er.
Unverzichtbar
CHEAP TRICK AT BUDOKAN
1979, Epic
Cheap Tricks wundersame Interpretation des Powerpop baute auf schimmernden, metalaffinen Melodien und dem herausragenden Sänger Robin Zander auf. Als diese Show 1978 in Tokio aufgezeichnet wurde, hatten sie schon zwei Studiowerke veröffentlicht, doch dieser euphorische, glückselige und bahnbrechende Livemitschnitt verhalf ihnen zu ihrem großen Durchbruch. Und verhalf der Halle zu einem ähnlichen Schub wie der Band. Das Publikum übertönte oft die Musik, doch AT BUDOKAN fing die Energie von ›I Want You To Want Me‹, ›Ain’t That A Shame‹ und ›Look Out‹ perfekt ein. Für Cheap Trick war nichts mehr so wie davor.
NO. 1 RECORD RADIO CITY
1982, Ardent Records
Big Star um die beiden Sänger und Gitarristen Chris Bell und Alex Chilton hatten in den 70ern drei Alben gemacht: #1 RECORD von 1972, RADIO CITY von 1974 sowie THIRD/SISTER LOVERS, das vier Jahre nach ihrer Auflösung erschien. Chilton gilt generell als Verfasser melancholisch-reuevoller Songs wie ›Ballad Of El Goodo‹, während Bell der reinere Pop wie ›September Gurls‹ zugeschrieben wird. Doch es ist die Partnerschaft der beiden, die sie ausmachte – und die ein jähes Ende fand, als Bell 1978 bei einem Autounfall ums Leben kam. Big Star wurden 1993 von Chilton mit Mitgliedern der Posies wiederbelebt und veröffentlichten 2005 das Album IN SPACE. Leider starb Chilton 2010.
Wunderbar
SOMETHING/ANYTHING
1972, Rhino Records
Rundgren ließ sich nie von Genres einschränken und machte alles, von konventionellem Pop bis Prog. SOMETHING/ANYTHING ist eine Tour de Force des Einfallsreichtums, auf der er sämtliche Instrumente spielte. Die schiere Vielfalt auf diesem Doppelalbum wirkte schon fast selbstgefällig, doch Songs wie ›I Saw The Light‹ und ›Hello It’s Me‹ sind unwiderstehlich. Big Star coverten später ›Slut‹ und einige Stücke waren auf dem „Almost Famous“-Soundtrack.
THE CARS
1978, Elektra
Ihre größten Erfolge hatten The Cars zwar 1984 mit dem Album HEARTBEAT CITY (›Drive‹), doch ihr Debüt fasste ihre Weltsicht perfekt zusammen. Der Punk war fast vorbei, doch seine raue Seite gefiel noch immer, vor allem in Verbindung mit smarten Songs. Die zwei großen Hits hier, ›My Best Friend’s Girl‹ und ›Just What I Needed‹, stehen exemplarisch für die Gabe der Band, kompakte Melodien auf ihre ganz eigene Art darzubieten. Eine tapfere Koketterie mit Virtuosität.
THE BEST OF
1999, Columbia Legacy
Fluffiger als die meisten Zeitgenossen, hatte Springfield genug Substanz, um auch langfristig erfolgreich zu bleiben. Als Seifenoper-Star in „General Hospital“ schlug er clever Kapital aus der kleinen Gefolgschaft, die ihm diese TV-Rolle einbrachte. Dieses Best-of rundet eine Karriere ab, die ihm nicht nur den Powerpop-Klassiker ›Jessie’s Girl‹
bescherte, sondern auch einen Haufen weiterer leicht verdaulicher Hits wie ›Don’t Talk To Strangers‹ und ›Calling All Girls‹. Man weiß, was einen erwartet…
NO DICE
1970, Apple Records
Gegründet von Pete Ham und Tom Evans, unterschrieben Badfinger bei Apple Records der Fab Four und veröffentlichten 1970 NO DICE. Hier finden sich all ihre besten Songs. ›Without You‹ wurde u. a. von Harry Nilsson gecovert, und ›No Matter What‹ ist bis heute im Radio zu hören. 1974 verdampften Millionen Dollar von ihrem Konto, was sie und das Label in den Abgrund zog. Die Schulden, Anfeindungen und Gerichtsverfahren, die folgten, trieben letztlich sowohl Ham als auch Evans in den Selbstmord.
Anhörbar
BETWEEN THE CRACKS: VOLUME 1
2014, ohne Label
Dwight Twilley wurde als „Godfather Of New Wave“ gepriesen, doch es war sein Pop-Rock, der elektrisierte. Sein Hit ›I’m On Fire‹ schien sein sicherer Durchbruch zu werden, doch die üblichen Musikbusiness-Alpträume sabotierten seine kommerzielle Karriere, bevor sie überhaupt begann. Für Fans obskurer Kultstars ist dieses Sammelsurium aus Stücken, die nie eine Labelheimat fanden, empfehlenswert dank Songs wie ›Black Eyes‹, ›Don’t You Love Her‹, ›Lullaby‹ und ›Oh Carrie‹.
GREATEST
2005, Capitol Records
1974 lösten sich die Raspberries auf, doch ihr Einfluss hielt weit länger an, vor allem bei Cheap Trick, später bei R.E.M. und Redd Kross. Frontmann Eric Carmen kennt man heute am ehesten für seine schmalzige Soloballade ›All By Myself‹, doch die Band brachte wesentlich potenteren Pop hervor. Der Top-5-Hit ›Go All The Way‹ ist die reinste Bubblegum-Freude, während spätere Songs wie ›Tonight‹ und ›I’m A Rocker‹ belegen, dass die Band britische Einflüsse aus den 60ern aufgesogen hatte, insbesondere The Who und Small Faces.
GROOVIES‘ GREATEST GROOVES
1996, Sire Records
Gegründet 1965, spielten die Flamin’ Groovies zunächst Rock’n’Roll à la Beatles und Stones, doch als sie sich 1976 mit Coproduzent Dave Edmunds zusammentaten, nahm ihre eigene Version des Powerpop Gestalt an. Ihr bekanntester Song, ›Shake Some Action‹, war roh genug, um über die Jahre auf diversen Punk-Samplern zu landen. Diese Compilation deckt einen Großteil ihrer Karriere ab, aber mit dem Schwerpunkt auf ihrer Glanzzeit Mitte der 70er.
BLONDIE
1976, Private Stock
Mit Ausnahme des Überbegriffs Pop sind Blondie wohl über jedes Genre hinausgewachsen, das sie je gespielt haben, doch ihre Entstehung zur selben Zeit wie Punk verwurzelte sie fest in der Powerpop/New-Wave-Bewegung. Aufgebaut um die eisig-kühle Debbie Harry, war ›Rip Her To Shreds‹ ein provokantes Juwel. Dieses Debüt von 1976 verband Bubblegum-Pop mit Garage-Rock, und Harry schritt über diese Grenzen, wie es Patti Smith oder Chrissie Hynde nie gelang.