Diese Abstriche halten Roger Waters aber nicht davon ab, weitere Pläne zu schmieden – und die gehen sogar über die Zeit nach der THE WALL-Aufführung hinaus. „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, als 80-Jähriger noch Tourneen zu spielen, die 55 Daten umfassen“, schränkt er ein, setzt jedoch sofort nach: „Im Moment bin ich allerdings ziemlich fit und tue auch einiges dafür, dass sich daran so schnell nichts ändert – zur Vorbereitung auf THE WALL habe ich mit Fitnesstraining begonnen, denn so eine Tour ist körperlich wahnsinnig anstrengend. Und auch Gesangsübungen gehören dazu, ich singe jeden Tag zwischen 30-40 Minuten. Einmal pro Woche schiebe ich außerdem eine speziell auf mich zugeschnittene Lektion ein. Dabei wiederhole ich verschiedene Skalen, singe sie rauf und runter, aber unterschiedlichen Silben, „la“, „le“, „ha“ und so weiter. Das Besondere daran: Ich übe das mit heraushängender Zunge, klappe also einfach meinen Kiefer herunter und lege los. Das sieht natürlich total bescheuert aus, kräftigt aber die Muskulatur. Und die ist enorm wichtig, wenn man seine Stimme erhalten will.“
Diese akribische Vorbereitung sichert nicht nur Roger Waters’ Zukunft als aktiver Musiker, sondern gibt ihm auch die nötige Sicherheit, die er braucht, um die THE WALL-Shows selbst genießen zu können. Zudem muss er sich 2010 auch weniger Sorgen um den technischen Aspekt des Unterfangens machen. Das war bei der Erstaufführung des Albums vor 30 Jahren noch anders. „Die Premiere fand in Los Angeles statt“, erinnert sich Waters, „und zwar in der Memorial Sports Arena. Es war wirklich aufregend, denn niemand wusste, ob auch alle Effekte so klappen würden, wie wir es geplant hatten. Und natürlich lief gleich zu Beginn etwas schief. Als wir die ersten Pyros zündeten, ging einer der Vorhänge, die wir extra als Feuerschutz hatten einfliegen lassen, direkt in Flammen auf. Einer der Feuerwerkskörper hatte ein Loch in der Größe eines Fußballs hineingebrannt. Daraufhin schmorte der Stoff vor sich hin und verqualmte die komplette Halle, sodass wir die Show unterbrechen mussten. Das war nicht der einzige Vorfall dieser Art. Jeden Abend passierte irgendetwas anders, und wir konnten nie sicher sein, dass nicht ein Show-Element oder die Projektoren mitten im Set ausfallen würde. Echt aufregend also…“
In dieser Hinsicht haben sich die Bedingungen heute dramatisch geändert – und zwar zum Positiven. Obwohl nicht weniger Personal benötigt wird als damals, steht das Unternehmen THE WALL heute auf sichereren Füßen, der modernen Technik sei dank. Wenig geändert hat sich indes, wenn man die thematische Aktualität von THE WALL unter die Lupe nimmt. Zwar gibt es heute keine Entfremdung mehr zwischen der Person Roger Waters und seinem Publikum, die übertragene Bedeutung des Albums hat 2010 jedoch nichts an Relevanz eingebüßt. „Als ich THE WALL komponiert habe, war ich ein ängstlicher junger Mann. Im Laufe der Jahrzehnte ist mir erst klar geworden, dass meine damalige Situation, diese Mischung aus Furcht, Scham und Verlust, übertragen werden kann auf etliche Probleme, mit der die Menschen auf der ganzen Welt zu kämpfen haben. Die Inhalte von THE WALL können auf Nationalismus, Sexismus, Religion, Rassismus und noch vieles mehr umgemünzt werden, denn sie alle drehen sich im Kern um dieselben Dinge, mit denen ich mich als verschüchterter Mittdreißiger herumgeschlagen habe.“
Zumindest Roger Waters hat jedoch seine Traumata niederringen können. Und so kann er heute auch auf die Endphase von Pink Floyd zurückblicken, ohne dabei die inneren Dämonen wieder zum Toben zu bringen. Das wäre vor einem Jahrzehnt noch nicht möglich gewesen. Damals kochte Waters immer noch, zu tief saß der Schmerz darüber, dass seine Kollegen es gewagt hatten, nach THE FINAL CUT ohne ihn weiterzumachen. Er konnte ihnen lange Zeit nicht verzeihen.
Erst seit der Zusage zu Live8 ist ein Ende der Eiszeit in Sicht. Zu verdanken ist das keinem Geringeren als dem Initiator des Benefizkonzerts, Bob Geldof. „Er rief mich an, denn ich war seine letzte Chance. Bob hatte zuvor mehrmals lange mit David Gilmour gesprochen, um ihn dazu zu bewegen, Pink Floyd für sein Charity-Konzert zu reaktivieren. Doch David weigerte sich standhaft. Geldof bekam schließlich von Nick Mason den Tipp, mich auf Gilmour anzusetzen. Nick sagte zu Bob: ,Der Einzige, der Bewegung in die Sache bringen kann, ist Roger.‘ Also ließ ich mir Davids Nummer geben, denn die hatte ich zum damaligen Zeitpunkt gar nicht, und dann griff ich zum Telefon. David war ziemlich überrascht, als er den Hörer abnahm und meine Stimme hörte. Aber er sprach lange mit mir, ließ sich die Angelegenheit durch den Kopf gehen und rief mich schließlich ein, zwei Tage später zurück. ,Okay, ich bin dabei‘, sagte er zu mir. Ich freue mich heute noch sehr darüber, dass er sich dafür entschieden hat – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Rick heute nicht mehr unter uns weilt. Für mich war das Ganze sehr wichtig. Selbst wenn wir nur einige wenige Stücke gespielt haben, genoss ich dennoch jede Sekunde.“
Und so sehr Roger Waters auch die jetzige Neu-Aufführung von THE WALL genießen wird: Er muss dafür ohne seine Kollegen auskommen. Denn eine Reunion der verbliebenen Pink Floyd-Mitglieder sieht er nicht, zumindest nicht in absehbarer Zeit. „Das wird wohl kaum passieren, denn Rick würde uns fehlen. Außerdem glaube ich nicht, dass David Interesse hat. Er ist glücklich mit all den Projekten, an denen er momentan arbeitet (aktuell veröffentlicht er eine Platte mit den Dance-Pionieren The Orb, siehe Kasten – Anm.d.Red.). Es könnte zwar sein, dass er, Nick und ich wieder für ein Charity-Konzert wie Live8 gemeinsam auf die Bühne gehen, dazu würden sogar zwei von uns ausreichen. Aber eine Tour würde nur dann Sinn ergeben, wenn wir alle mit von der Partie wären.“
Auch diese vorsichtige Formulierung zeigt, dass das Eis zwischen Gilmour und Waters rascher schmilzt, als so manch einer vermutet hätte. So klingt die Aussage des Bassisten eher danach, als hätten die Musiker Terminkonflikte, aber keine persönlichen. Hinzu kommt, dass die beiden vor wenigen Wochen wieder gemeinsam gerockt haben. Zu Gunsten der „Hoping Foundation“, einer Organisation zur Förderung palästinensischer Kinder, spielten die zwei Pink Floyd-Köpfe mehrere ihrer Songs, nämlich ›To Know Him Is To Love Him‹ (von Phil Spector), ›Wish You Were Here‹, ›Comfortably Numb‹ und ›Another Brick In The Wall Pt. 2‹. Unterstützt wurden sie dabei von Guy Pratt (Bass), Harry Waters (Keyboard), Andy Newmark (Drums), Chester Kamen (Gitarre) und Jonjo Grisdale (Keyboard). Das allein ist schon aufregend genug für alle Floyd-Jünger, doch Waters setzte nach diesem denkwürdigen Abend sogar noch einen drauf. Er verkündete auf seiner Facebook-Seite, dass Gilmour ihn während einer der US-Shows zu THE WALL bei ›Comfortably Numb‹ unterstützen werde. „David hatte mir vor dem Charity-Gig im Juli geschrieben, dass er einmal ›Comfortably Numb‹ mit mir aufführen würde, wenn ich mit ihm bei der Benefizshow ›To Know Him Is To Love Him‹ spiele. Dazu konnte ich natürlich nicht Nein sagen! Und ich tat es auch nicht. Seine Großzügigkeit war stärker als meine Angst. Also schrieb ich ihm, dass ich dabei wäre, selbst wenn das Ganze wahrscheinlich nicht der beste Gig aller Zeiten werden würde. Mir wäre das aber egal, wenn es ihm auch nichts ausmache. So einfach ging’s. Wir haben es durchgezogen, und es war wundervoll. Der Rest ist Geschichte. Oder besser: ein neuer Beginn.“