Der Song erschien kurze Zeit später als erste Single und löste einen Sturm der Empörung aus, auf den die Band nicht vorbereitet war. Eine Reihe DJs der BBC verbannten das Stück aus ihren Programmen, und auch bei der Presse stieß die Vorstellung eines schwerstbehinderten Jungen als Protagonist eines Songs durch die Bank auf Ablehnung. Einige Rezensenten revidierten zwar nach dem Hören des kompletten Albums ihre Meinung, aber ein echter Kritikerliebling war TOMMY zunächst nicht. Dafür war die Story einfach viel zu gewagt. Auch der hochtrabende Terminus „Rockoper“ stieß vielen übel auf. Dass The Who den Begriff stets augenzwinkernd benutzt hatten, wurde zumeist übersehen. Um die Medien milde zu stimmen, fand die feuchtfröhliche TOMMY-Live-Premiere Anfang Mai 1969 ausschließlich vor geladenen Pressevertretern statt.
Im für die Wucht von The Who eigentlich viel zu kleinen Londoner Jazzclub Ronnie Scott’s spielte die Band ihr neues Album zum ersten Mal in Gänze. Zu erleben gab es dabei nicht nur das neue Konzeptwerk, sondern auch eine neue Dynamik innerhalb der Band. Aus den vier nach Aufmerksamkeit gierenden Exzentrikern, die zuvor jahrelang jeder für sich statt gemeinsam um die Gunst des Publikums gebuhlt hatten, war praktisch über Nacht eine eingeschworene Band geworden. „Die Musik von TOMMY schien eine unerklärliche Kraft zu besitzen, die niemand von uns erwartet oder geplant hatte“, schrieb der Gitarrist über die ersten Proben. Er sollte Recht behalten. Die rund 18-monatige Tournee, die folgte, gilt nicht nur wegen des Auftritts in Woodstock bis heute als eine der legendärsten der Rockgeschichte. Allabendlich ließen The Who nach ihrer aufrührerischen Zwei-Stunden- Show restlos begeisterte Zuschauer zurück. Der im Februar 1970 bei einem Universitätsauftritt in Nordengland aufgenommene Konzertmit- schnitt LIVE AT LEEDS gilt bis heute allenthalben als das beste Live- Album überhaupt.
Als die Tournee kurz vor Weihnachten 1970 mit einer letzten TOMMY-Aufführung vor heimischem Publikum im Londoner Roundhouse zu Ende ging, war längst vergessen, dass viele das Album zunächst für anmaßend gehalten hatten. „Ohne die Kühnheit und Unverfrorenheit, sowohl Aufmerksamkeit als auch Schmähung auf sich zu ziehen, wären The Who irgendwann in der Versenkung verschwunden oder irrelevant geworden“, war sich Townshend später sicher. Mit TOMMY war dem Quartett allerdings viel mehr gelungen, als nur den Hals aus der Schlinge zu ziehen. In den Augen vieler Medienvertreter katapultierte das Album The Who auf den Rock-Olymp. Wie schrieb der britische „Melody Maker“ doch so treffend über den Status der Band am Ende der TOMMY-Ära? „Zweifelsohne sind The Who jetzt die Band, an der sich alle anderen messen lassen müssen!”
Kleiner Fehler auf Seite 2 : Nicht der Liebhaber wird erschlagen sondern der Liebhaber erschlägt den heimkehrenden Vater. Sonst ein interessanter Bericht.