THE BRIDGE ist im allerbesten Sinn ein klassisches Sting-Album. Die Melodien funkeln, die Worte sind klug gewählt, von stillen, akustischen Nummern wie dem Titelsong oder dem etwas an ›Fields Of Gold‹ erinnernden ›For Her Love‹ bis zu temporeichen Stücken wie ›Loving You‹ reicht die große stilistische Bandbreite der Platte, über die wir uns mit dem jüngst 70 gewordenen Engländer unterhielten.
Sting, die letzten Jahre waren nicht ohne. Was hat das alles mit deinem Optimismus gemacht?
Nichts. (lacht)
Gar nichts?
Nein, selbstverständlich habe ich meinen Optimismus nicht verloren. Die Zeiten sind
nicht leicht und unproblematisch, natürlich sind sie das nicht. Aber waren sie das denn irgendwann in der Geschichte schon mal? Ich kann mich nicht erinnern.
Die Welt steht allerdings unbestreitbar vor Herausforderungen. Klimawandel und Naturkatastrophen, politischer Extremismus und vieles mehr stellt uns vor Probleme.
Ich streite das alles auch gar nicht ab oder will es kleinreden. Wir werden uns am Riemen reißen müssen. Und trotzdem lasse ich mir meine Zuversicht nicht nehmen. Nur wenn wir zuversichtlich sind, haben wir überhaupt eine Chance, zu überleben. Und ja, ich bin nicht naiv, und es fällt mir nicht immer leicht, meinen Optimismus zu bewahren. Ich denke, mein Optimismus ist durchzogen von Realismus. Aber Pessimismus ist eine selbsterfüllende Sache. Wenn du glaubst, alles geht den Bach runter, dann wird es das auch tun. Insofern ist es die bessere Strategie, optimistisch zu sein.
Diese Herangehensweise ans Leben wird auch auf deinem neuen Album THE BRIDGE deutlich. Im fröhlichen ›If It’s Love‹ singst du darüber, morgens mit Schwung aus dem Bett zu hüpfen.
Das tue ich tatsächlich. Ich mag das Gefühl, am Morgen aufzuwachen und den Tag vor mir zu haben. Bei dem Song muss ich immer an meinen Vater denken, der Milchmann war. Er brachte dir also jeden Morgen die Milch – und dabei pfiff er immer ein Liedchen. Pfeifen ist ebenfalls sehr therapeutisch. Ich habe schon Fensterputzer erlebt, die meine Songs pfeifen, während sie bei uns ihrer Arbeit nachgingen.
Auch in dem Song wird also gepfiffen.
Ja. Das bin ich, der da pfeift. Die Liebe zum Pfeifen habe ich von meinem Vater geerbt.
Du warst ja auch oft mit dabei, wenn er die Milch ausgefahren hat.
Das stimmt. Mein Vater war ein eher grüblerischer Mensch, kein besonders gelöster oder unbeschwerter Zeitgenosse. Aber er hat es geliebt zu pfeifen.
Pfeifen ist für dich also nicht zwingend mit einer positiven Stimmung verbunden?
Du kannst auch im Dunkeln pfeifen, weil du Angst hast. Du kannst auch auf dem Friedhof pfeifen, weil du weißt, dass du eines Tages dort liegen wirst.
Wo wir schon auf dem Friedhof sind. Für einen bekennenden Agnostiker hast du die neuen Lieder mit einer beträchtlichen Menge von religiösen Bezügen und Referenzen angereichert. Womit hängt das zusammen?
Ich beschäftige mich mit den Fragen des Glaubens, selbst wenn ich mich persönlich keiner Religion zugehörig fühle. Ich stamme aus einem relativ frommen Elternhaus. Die Bibel hat mich fasziniert, seitdem ich zurückdenken kann. Die Sprache steckt voller Bilder und Metaphern, sie hat seit jeher meine Phantasie angeregt. Das heißt nicht, dass ich an die Dinge glaube, die dort stehen, aber allein die Geschichten faszinieren mich. Also beziehe ich mich ständig auf die Bibel, ohne religiös zu sein.
Der Titelsong überrascht mit politischen Untertönen. Du scheinst in ›The Bridge‹ die Menschen zu kritisieren, die eher an sogenannte „alternative Fakten“ glauben als an Tatsachen. Ist für dich selbst immer klar, was Gut und Böse, was wahr und was gelogen ist?
Nein. Ich bin, wie du schon bemerkt hast, Agnostiker. Als solcher weiß ich, dass ich nichts weiß. Ich denke, sich absolut sicher über was auch immer zu sein, ist eine gefährliche Haltung, sei es politisch oder spirituell. Menschen, die sich unsicher sind, die keine endgültigen Gewissheiten mit sich herumtragen, sind anpassungsfähiger und flexibler. Und damit besser geeignet, zu wachsen. Menschen, die sich ihrer Sache zu sicher sind, bleiben stehen. Und Stehenbleiben ist nicht so mein Ding. (lacht) Ich bin lieber in Bewegung.
Hat dir dein 70. Geburtstag, den du mit einem Konzert an der Athener Akropolis gefeiert hast, eigentlich viel bedeutet?
Ich mag mein Alter. Ich mochte es immer, wie alt ich auch jeweils war. Ich sitze doch jetzt nicht hier und sage: „Ach, Mensch, mit 40, das waren noch Zeiten“. Wir alle werden älter und haben das Privileg, uns dem Leben stellen zu dürfen. Ich sehe das entspannt. Und ich merke auch noch nicht so viel. Ich bin gesund und achte darauf, mich jeden Tag zu bewegen. Am liebsten schwimme ich, das ist die beste Sportart von allen.
Wie stark hat einen rastlosen Menschen wie dich eigentlich Corona ausgebremst?
Wie uns alle, denke ich. Ich war glücklich, dass ich meine Familie hatte und glücklich, dass ich weiter Musik machen konnte. Wir sind ein wenig herumgereist, aber nicht annähernd so viel wie üblich. Körperlich bin ich gesund geblieben, aber für die Psyche war die Zeit eine Herausforderung. Ich bin irgendwann dazu übergegangen, jeden Tag im Studio zu arbeiten, damit ich nicht verrückt werde. So entstand dann THE BRIDGE.
Welcher Song war der erste?
Das war ›Captain Bateman‹. Ich saß im Studio und überlegte, worüber ich schreiben könnte und griff zu einem dicken Buch mit alten, englischen Folksongs. Aus Zufall fand ich darin einen Song namens ›Lord Bateman‹, 21 Strophen lang. Der Song ist bereits sehr alt, aus dem 12. Jahrhundert, und er ist angesiedelt im Norden Englands, meinem Teil der Welt. Er handelt von einem Lord und einem Betrug, mich hat die Geschichte gefesselt, und dann habe ich das Ganze auf sieben oder acht Strophen eingedampft, ›Captain Bateman‹ betitelt und die Musik neu geschrieben. Ich fand es nett, mit etwas Uraltem zu beginnen und es aufzufrischen. Das zeigt uns: Gute Musik kennt kein Alter.
Die neuen Lieder handeln von der Liebe, vom Tod, von schweren wie von leichten Gedanken. Was ist THE BRIDGE für dich persönlich?
Eine Songsammlung über die Menschlichkeit. Wenn wir unseren Willen zur Empathie stärken, dann wird es uns am Ende auch gelingen, heil auf der Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft zu schreiten. Und uns auf dem Weg mit Lust, Neugier und Freude der Gegenwart hinzugeben. (Text: Ken Summit)