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Serj Tankian – Offene Unvollkommenheit

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Serj Tankian – Offene Unvollkommenheit

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Serj_Tankian 2010 @ Daragh McDonaghEin 25-köpfiges Streich-Ensemble, ein halbes Dutzend Bläser, Jazz, Folk und Elektronik auf Serj Tankians zweitem Studio-Solo IMPERFECT HARMONIES darf’s von allem mehr sein.

Der System Of A Down-Irrwisch ist nicht nur einer der aufgeschlossensten Zeitgenossen, die einem je begegnen werden – er hat auch die Größe, zuzugeben, wenn ihm Daten fehlen: „Vorgestern habe ich die ELECT THE DEAD SYMPHONY mit dem Bruckner Orchester in Linz aufgeführt, und natürlich fragten die sofort, ob ich Bruckner mag und…“ Hust, hust, hust. „Ich musste ihnen gestehen, dass ich niemals von ihm gehört habe. Aber ich kannte auch keinen Metal, bevor ich anfing, Metal zu spielen, also ist es wahrscheinlich egal.“ Er lacht mit heller Stimme. „Ich finde es ziemlich unerheblich, in was für einem Genre du dich bewegst, welche Instrumente du benutzt, so lang du eine Vorstellung davon hast, was du darstellen möchtest. Das sind alles Farben, die einem als Künstler zur Verfügung stehen. Warum sind die Leute nur so formalistisch und engstirnig? Das habe ich nie verstanden“, seufzt er. „Wenn mir jemand sagt, dass dieses und jenes nicht gehen würde, werde ich nur bockiger.“

Das Leben, eine Bildungsreise – für Serjs zweiten Solo-Ausflug gilt das mehr denn je. Aufstrich, Abstrich, Aufstrich: So rabiat kann Neoklassik klingen, ahnt man, doch schon unter dem schlingernden Opener ›Disowned Inc.‹ blubbert diskret ein kybernetischer Beat. Mit der Drum’n’Bass-Nummer ›Electron‹ (clever, in der Mitte des Albums) wird der seinen Höhepunkt erreichen. Zusammen mit dem orchestralen ›Gate 21‹ war das Stück der Ausgangspunkt des Albums: „Ich habe sicher an die 500, 600 unveröffentlichte Songs in meinen Truhen“, erklärt Serj, „aber die zwei brannten mir unter den Nägeln. Sie hatten völlig verschiedene Anmutungen, und mich trieb die Frage um, wie ich diese beiden Welten, die elektronische und die organische, verbinden könnte…“

Herausgekommen ist eine Achterbahnfahrt, wie sie früher nur Mr. Bungle oder die verrückten Franzosen von Carnival in Coal auf die Schienen stellen konnten.

IMPERFECT HARMONIES ist jedoch keine reine Spaßveranstaltung: Tankian, der seit 2002 mit Tom Morello die Non-Profit-Organisation „Axis Of Justice“ leitet, wäre nicht er selbst, wenn er die geopolitische und soziale Ebene aussparte – siehe die Single ›Borders Are‹, mit der er über die Hirnrissigkeit menschgemachter Grenzen klagt. Wie wichtig ist Tankian, dass die Leute diese Seite der Platte erfassen? „Im Grunde gibt es nur zwei offen politische Stücke“, wiegelt er ab, „nämlich ›Borders Are‹ – dazu gibt es auch ein Statement auf meiner Website – und ›Left Of Center‹, sicher der rockigste Titel auf der Platte. Alle anderen verstehe ich eher als philosophische Annäherung an die Zeit und Welt, in der wir leben.“ Einen implizit politischen Song hat er aber in seiner Aufzählung vergessen – das Klavierstück ›Yes, It’s Genocide‹, das an den osmanischen Völkermord an den Armeniern erinnert: „Das ist tatsächlich ein sehr emotionaler Song für mich“, räumt Serj ein. „Ein rohes, unbehauenes Gefühl.“

Dass seine Stimme darüber mehrfach an ihre (naturgegebenen) Grenzen gerät, weil er sich gegen die schwellenden Streicher durchsetzen muss – geschenkt. Apropos: Wann hat Serj das letzte Mal zu einem Stück Musik geweint? „Hmh, nicht lang her. Vor kurzem?“ grübelt er. „Ich kann gar nicht genau sagen, wann und zu was, es könnte ein Film gewesen sein. Zählen auch Freudentränen? Dann weiß ich’s! Bei so gut wieder jeder dieser Orchester-Shows, die ich gerade gebe. Die sind wirklich bewegend. Oft muss ich losheulen, weil ich nicht fassen kann, dass ich gerade auf dieser Bühne stehe und so großartige Musiker meine Songs spielen.“

So viel Bescheidenheit – das Bruckner Orchester wird ihm sicher noch ein paar CDs des Meisters zugesteckt haben.

 

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