Anlässlich des neuen REO-Speedwagon-Livealbums LIVE AT ROCKPALAST 1979 (inkl. DVD), das am 10.11.1979 in der Hamburger Markthalle aufgenommen wurde, rufen wir einen bestens gelaunten Kevin Cronin in Kanada an, wo er und seine Band an diesem Abend zusammen mit Train auftreten. Im Interview erzählt der Sänger und Gitarrist von seinen Erinnerungen an die späten 70er Jahre, als REO kurz vor ihrem ganz großen kommerziellen Durchbruch standen.
Hinweis: Das Interview mit Kevin Cronin fand im August statt, also vor der kürzlichen Bekanntgabe, dass REO Speedwagon ab 2025 wegen „unüberbrückbarer Differenzen“ nicht mehr live auftreten werden.
1979 habt ihr gerade NINE LIVES veröffentlicht, ein Jahr später sollte der große Durchbruch mit HI INFIDELITY kommen. Wie hast du diese Zeit in Erinnerung?
Das war eine ganz besondere Phase. Wir hatten mit YOU CAN TUNE A PIANO, BUT YOU CAN’T TUNA FISH Songs draußen wie ›Roll With The Changes‹ und ›Time For Me To Fly‹, dazu Lieder wie ›Ridin‘ The Storm Out‹ aus den frühen 70ern. Ein ziemlich gutes Repertoire, das die Leute kannten. Wir standen kurz davor, die Songs für HI INFIDELITY zu schreiben. ›Back On The Road Again‹ von NINE LIVES war ein echter Fan-Favorit. Als wir nach Deutschland kamen, landeten wir in Hamburg. Als große Beatles-Fans schauten wir uns all die Clubs an, in denen sie gespielt hatten. Wir wollten auf jeder Bühne jammen, auf der die Beatles aufgetreten sind. Oft wurden wir im Publikum erkannt und gaben dann ein paar Beatles-Songs und Nummern von Chuck Berry zum Besten. Danach schauten wir den Sonnenaufgang über der Elbe an und dachten uns: „John, Paul, George und Ringo haben diesen Anblick bestimmt oft erlebt.“ An einem Abend traten wir im Rockpalast auf. Ich weiß noch genau, was ich anhatte, weil ich später ein paar Fotos zu Gesicht bekam und ehrlich sagen muss, dass ich aus heutiger Perspektive ziemlich lächerlich aussah. (lacht) Aber damals fand ich mich natürlich cool. Den Rockpalast habe ich als verrauchten, richtig tollen Rockclub in Erinnerung. Nicht groß, aber voller Menschen. Das war unser erster Auftritt in Europa. Wir hatten eine kleine Anhängerschaft, das Publikum an diesem Abend sprang total auf uns an. Die Energie war großartig. Das gab uns das Gefühl, dass etwas Großes bevorstand. Damit sollten wir recht behalten, unser nächstes Album HI INFIDELITY ging durch die Decke.
Ihr habt also schon gespürt, dass ihr auf einem Sprungbrett steht?
Definitiv. Mein Partner damals war der großartige Gary Richrath, nicht nur ein phänomenaler Gitarrist, sondern auch eine phänomenale Erscheinung – er fing das Publikum mit seinem Spiel ein. Gary ist einer der größten Rockgitarristen überhaupt. Er hatte diese wunderschönen Vintage-Les-Pauls, einfach großartig. Jedes unserer Alben war damals entweder mehr von mir oder mehr von Gary beeinflusst. YOU CAN TUNE A PIANO, BUT YOU CAN’T TUNA FISH war stärker von mir beeinflusst, sehr melodisch, sehr Song-orientiert. NINE LIVES hingegen spiegelte eher Gary wider, es war sehr Gitarren-fokussiert. Ich denke, dass wir die Lücke zwischen unseren beiden Energien auf HI INFIDELITY schließen und das jeweils Beste von uns auf dasselbe Album packen konnten. Ich wünschte, die Rockwelt und Presse würde auf die späten 70er Jahre von REO zurückblicken und Garys Schaffen stärker würdigen. Vor einiger Zeit waren Slash und ich im selben Interview und ich fragte ihn, ob er von Gary beeinflusst wurde. Denn wenn ich an Slash denke, die Art, wie er seine Gitarre hält, seine Präsenz auf der Bühne, sehe ich Gary. Und Slash bejahte meine Vermutung sofort. Ich trete wirklich dafür ein, dass die Leute sich mehr mit Gary Richrath beschäftigen!
Das neue Livealbum bietet jetzt eine gute Gelegenheit für alle Nachzügler. Eine sehr energiegeladene Aufnahme…
Um ehrlich zu sein: Bisher konnte ich die Aufnahme nicht hören. Ich bin froh, dass dir der Mitschnitt gefällt, denn ich hatte die Sorge, dass die Qualität nicht so gut sein würde, einfach, weil die Technik in den 70er Jahren noch nicht so weit war.
Klar hört man, dass es keine neue Aufnahme ist, es klingt vintage. Aber in Zeiten, wo die künstliche Intelligenz gerne alles glatt bügelt, tut es gut, zu hören, wie echte, menschengemachte Musik klang und klingt.
Ich stimme dir absolut zu. Wenn wir spielen, kommt es durchaus mal vor, dass ich eine Note nicht ganz perfekt treffe. Aber das ist menschlich, so weiß man, dass ich live singe. Wenn ein Konzert zu perfekt klingt, ist es nicht live. (lacht) Wir gehen auf die Bühne und spielen Rock’n’Roll! Unsere Band ist aktuell so gut wie schon lange nicht mehr, ich bin sehr stolz auf uns. Ich hoffe sehr, dass wir bald nach Europa zurückkehren können.
Dein Vater hat im zweiten Weltkrieg gegen die Nazis gekämpft. Hat das deine Wahrnehmung auf Deutschland beeinflusst, als du damals zum ersten Mal hier warst?
Mein Vater war zu einer schrecklichen Zeit in Deutschland, es muss furchtbar gewesen sein, damals hier zu leben. In den amerikanischen Nachrichten bekamen wir zu hören, dass alle Deutschen Nazis seien. Das stimmte nicht. Vielleicht sollte ich gar nicht darüber sprechen, weil ich keine Ahnung habe, doch in der Wahrnehmung meines Vater war es so, dass viele froh waren, als die Amerikaner kamen. Als wir mit REO Speedwagon einreisten, stand die Berliner Mauer noch, wir mussten durch Ostdeutschland und spürten dort eine gewisse Anspannung. An der Grenze gab es bewaffnete Soldaten, die in unseren Bus kamen und unsere Kameras beschlagnahmten. Doch als wir nach Westberlin kamen, wurden wir nett begrüßt und mit großer Gastfreundschaft bedacht. Über die Jahre bin ich immer wieder nach Deutschland gekommen, zuletzt 2019 im Rahmen von „Rock Meets Classic“, wo ich mehrere Wochen zusammen mit Deep Purples Ian Gillan, Mike Reno von Loverboy und Andy Scott von Sweet auftrat. Das war großartig. Die Städte waren voller Leben, die Menschen liebten die Musik, der Vibe war richtig gut!
Nach all diesen Jahren: Was hat dich das Leben in einer erfolgreichen Rockband gelehrt?
Die wichtigste Lektion: Du darfst nicht selbstgefällig werden. Wenn du denkst, du hast es geschafft und dich auf deinem Erfolg ausruhst, ist das das Rezept für ein Desaster. Ich muss wachsen, mich immer weiter pushen. Während der Pandemie habe ich begonnen, regelmäßig mit einem tollen Gesangslehrer zu arbeiten und singe besser als je zuvor. Früher hatte ich Angst, meine Stimme zu verlieren, heute weiß ich, wie ich sie richtig nutze. Man ist nie fertig, lernt nie aus. Außerdem bin ich extrem dankbar dafür, dass meine Songs vielen Menschen etwas bedeuten. Ich verstehe, wie Lieder der Beatles oder von Crosby, Stills & Nash – all jener Bands, die ich liebe – mich berühren. Dass Menschen ähnliches bei meinen Liedern fühlen, kann ich gar nicht greifen.