Crazy, crazy night!
Am 02.12. spielten Kiss ihr (offiziell) allerletztes Konzert im Madison Square Garden in New York City, in jener Stadt, in der vor 50 Jahren alles für die junge Band mit den großen Träumen begann. Gegen eine Gebühr von 14 Dollar kann man das Spektakel als „pay per view“ Event am eigenen Bildschirm miterleben und sich so das 40 minütige Vorgeplänkel, bestehend aus Interviews und nicht zwingend notwendigen Anheizer-Versuchen, in den eigenen vier Wänden sinnvoll vertreiben. Dann schließlich gehen die Lichter aus, als Intro ertönt ›Love Gun‹, bevor die „hottest band in the world“ schließlich zu eben jenen Ankündiungsworten ein letztes Mal ihren spektakulären Rock-Zirkus live auf der Bühne loslässt.
Gestartet wird mit ›Detroit Rock City‹ und sich dann gut 2,5 Stunden lang durch den wunderbaren Katalog der Legenden gepflügt. ›Cold Gin“ (ein Highlight des Abends), ›Lick It Up‹, ›God Of Thunder‹ mit Genes klassischer Blut-Einlage, ›Love Gun‹, ›I Was Made For Loving You‹, all dies vor der spektakulären Kulisse ihrer für die „End Of The World Tour“ konzipierten Bühne. Nach über 240 Abschiedskonzerten in den letzten Jahren haben Kiss nochmal all ihre Pyro-Reserven zusammengekratzt und den Sauerstoff im Madison Square Garden nicht nur einmal ziemlich knapp werden lassen. Denn natürlich lässt sich einer der theatralischsten Rock-Acts überhaupt nicht lumpen an so einem wichtigen Abend.
Nach dem zweiten Song ›Shout It Out Loud‹ richtet Stanley sich erstmals ans Publikum. Er meint „Ich weiß, viele von euch sind traurig. Aber diese Nacht heute ist da, um das zu feiern, was wir gemeinsam geschafft haben. Ohne euch hätten wir das niemals geschafft, New York.“ Zwischendurch erzählt er außerdem eine liebenswürdige Anekdote aus seinem Elternhaus und bedankt sich bei seiner Mutter und bei seinem Vater. Außerdem gibt er jene Geschichte zum Besten aus dem Jahr 1972, als er noch als Taxifahrer arbeitete und ein Paar zum Madison Square Garden chauffierte, weil dort Elvis Presley auftrat. „Die sahen mich an, als wäre ich komplett irre, als ich ihnen sagte, dass eines Tages die Leute hierhin kommen würden, um mich und meine Band zu sehen.“
Solche Kommentare wärmen das Herz und lassen Kiss, von New Yorker Straßenjungs zu einer großen Maschinerie gewachsen, an diesem speziellen Abend sehr menschlich wirken. Auch ihr Auftritt wirkt nicht nur „Almost Human“, sondern meistens sehr live und so folgt man Paul Stanleys Aufforderung und freut sich einfach nur: Darüber, dieses Event via Stream miterleben zu dürfen, darüber, dass Kiss es bis hierher geschafft haben, darüber, dass einem Mr. Starchilds teilweise leicht wacklige Vocal-Performance ein Lächeln ins Gesicht zaubert, darüber, dass man auf demselben Planeten wie Kiss existieren durfte.
Ein bisschen schade ist es, dass Kiss es nicht geschafft haben, ehemalige Weggefährten zu sich auf die Bühne holen. In den letzten Jahren ging immer wieder ein Schlagabtausch zwischen Ex-Gitarrist und Gründungsmitglied Ace Frehley und Gene bzw. Paul hin und her. Vor etwa einem Jahr hatte Gene Simmons Frehley auf Twitter dazu eingeladen, Kiss für ein oder zwei Songs auf die Bühne zu folgen. Leider hatte ein solches Arrangement sogar am finalen Abend der Band nicht zustande kommen können, warum genau, das wird man noch herausfinden müssen.
Doch auch ohne „Special Guests“ ist dieser Abend besonders. Er ist das letzte, große Salut einer Band, die die Rockhistorie geprägt hat wie nur wenige andere. Kiss waren nicht nur einfach eine Musikgruppe, Kiss haben ein ganzes Universum erschaffen und somit gleichzeitig ein Eskapismusangebot für uns Fans. Dass es diese Band seit 50 Jahren gibt, ist ein kleines Wunder. Dass sich The Demon, The Starchild, The Spaceman und The Catman auch mit über 70 noch in ihre kiloschwere Rüstung zwängen und auf meterhohen Plateau-Stiefeln über die Bühne stapfen, ist nicht nur grandios, sondern auch ein echter Kraftakt.
Und weil dieser Kraftakt langsam zu viel wird, hören Kiss nach diesem Abend auf. Und irgendwie doch nicht. Denn nach den Zugaben, Konfettifluten, Luftschlangen-Fontänen und einer echten „Pyromania“, stellt Paul Stanley mit den Worten „The end of this road is the beginning of another road. We’re not going anywhere“ vier Avatare vor, die künftig wie bei Abba für die echten Mitglieder auf der Bühne agieren sollen. Die Hologramme performen ›God Gave Rock’n’Roll To You‹ und nach dieser letzten Show und den vielen Emotionen bleibt man skeptisch, ob vier dreidimensionale Bilder jene Rockstars, die man seit 50 Jahren bewundert, auch nur ansatzweise ersetzen können. Wahrscheinlich nicht und das ist auch gut so. Doch darum soll es heute gar nicht gehen. Heute geht es um die echten Kiss aus Fleisch und Blut. Farewell, Kiss! What a crazy, crazy night.
Setlist:
Detroit Rock City
Shout It Out Loud
Deuce
War Machine
Heaven’s on Fire
I Love It Loud
Say Yeah
Cold Gin
Lick It Up
Calling Dr. Love
Makin‘ Love
Psycho Circus
100,000 Years
God of Thunder
Love Gun
I Was Made for Lovin‘ You
Black Diamond
Zugabe:
Beth
Do You Love Me
Rock and Roll All Nite