Jethro Tull loten die ewige Frage der Menschheit aus: gut oder böse?
Ein in der hohen Kunst des Balletts gerne beschworenes Sujet: Rücklings liegt eine grazile Ballerina leblos, vielleicht gar tot auf dem Bühnenboden eines viktorianischen Theaters. Dieses visuell trickreich in Schwarzweiß aufgenommene Foto ziert das Cover von A PASSION PLAY, dem sechsten Studiowerk der britischen Formation Jethro Tull. Ein 1973 auf zwei Plattenseiten in 16 Segmente unterteiltes Opus in vier Akten.
Künstlerisch hochgestochen loten Komponist, Flötist und Sänger Ian Anderson, Gitarrist Martin Barre, Pianist John Evan, Bassist Jeffrey Hammond-Hammond sowie Schlagzeuger Barriemore Barlow die Eckpfeiler Klassik, Jazz und Folk aus. „Art for art’s sake“, Kunst um der Kunst willen, pflegen die Briten ein so ambitioniertes Unterfangen nicht ohne Augenzwinkern zu umschreiben.
Bei Ian Anderson weiß der Hörer ohnehin nie so genau woran er ist: Schon auf dem Vorgängerwerk THICK AS A BRICK, einem recht ähnlichen Epos auf allerdings stark satirischem Fundament, saß dem Tull-Chef ja der Schalk im Nacken. Da stellt sich die Frage: Was soll so einem Opus denn folgen?
Anderson und Co., noch immer damit beschäftigt den immensen Erfolg von AQUALUNG (’71), das allein in den USA Triple-Platin einheimste, zu verkraften, planen eigentlich ein Doppelalbum mit Material im konventionellen Songformat. Enden aber erneut im Konzept. Aber diesmal ohne Parodieabsicht.
Doch der Reihe nach: Denn alleine der Aufnahmeprozess mutet an, als wäre es ein Kapitel aus „Spinal Tap“: Um horrende britische Steuern zu umgehen, mieten sich Jethro Tull im nahe Paris gelegenen Studio Château d’Hérouville ein. Anfänglich läuft alles rund. Doch dann beginnt ein Fiasko, das beinah im Desaster endet: Das Quintett muss nicht nur verkraften, dass es gemeinsam in einem recht spartanischen Schlafraum nächtigen muss, sondern auch, dass die Betten völlig verwanzt sind. Doch der Albtraum geht noch weiter: Nachdem sich die Band dank nachlässiges Inhouse-Caterings kollektiv eine üble Nahrungsmittelvergiftung zugezogen hat, häufen sich auch noch technische Probleme. Kurzerhand setzen Jethro Tull die Aufnahmen im Londoner Morgan Studio fort, ohne das bislang entstandene Material zu berücksichtigen.
Binnen neun Tagen bis zum nächsten Tourneestart hauen sie A PASSION PLAY raus. Eine krude Story über Ronnie Pilgrim, einen Toten, der, nachdem er an der eigenen Beerdigung als Geistwesen teilgenommen hat, im Jenseits einen spirituellen Reinigungsprozess durchläuft, erst in den Himmel auffährt, dann einen Antrag auf Aufenthalt in der Hölle stellt, um schließlich festzustellen, dass er weder das Eine noch das Andere mag. Eine psychologisch-philosophische Achterbahnfahrt um den Sinn menschlichen Daseins und um die uralte Frage nach Gut und Böse.
A PASSION PLAY (EXTENDED PERFORMANCE) umfasst samt Buch ein ganzes Bündel an Extras: Auf zwei CDs sammeln sich das Original sowie die 15 Songs der Sessions von Château d’Hérouville, beides remixt von Steven Wilson. Auf den zwei DVDs findet sich das gesamte Material im ebenfalls von Wilson vorgenommenen Mix im 5.1 Surround-Sound sowie ein Videoclip, der einst auf der Konzerttournee gezeigt wurde. Zudem liegt der neue Stereomix auch auf 180g schwerem Vinyl vor.