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Jethro Tull: AQUALUNG – Das letzte Aufbäumen

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Jethro Tull: AQUALUNG – Das letzte Aufbäumen

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Songs wie ›My God‹ und ›Wind Up‹ verdeutlichten unmissverständlich, dass Anderson sich nicht scheute, unbequeme Fragen zur Religion und ihren Einfluss auf die Massen zu stellen und den konventionellen Glauben ohne Umschweife zu hinterfragen. Heute würde sich niemand mehr über so relativ zahmen Nonkonformismus aufregen, doch 1971 müssen Jethro Tull dem durchschnittlichen Rockfan ziemlich radikal erschienen sein, vor allem in jenen Teilen Amerikas, wo die Kirche ihren Schatten über alles und jeden wirft. „Innerhalb eines Jahres hatten wir an manchen Orten einen beträchtlichen Bekanntheitsgrad erreicht und galten als berüchtigt wegen der kritischen Äußerungen über organisierte Religion auf AQUALUNG, was einige Leute provozierte. In den Südstaaten regten sie sich mancherorts darüber auf und veranstalteten rituelle Verbrennungen von AQUALUNG. Das war im ‚Bible Belt‘, also erwartete man das dort. Doch zumindest ich erlebte nie eine direkte Konfrontation oder einen Versuch, mir Schaden zuzufügen, was aber auch daran gelegen haben mag, dass es zu einem gewissen Grad vielleicht von mir ferngehalten wurde. Ich vermute, dass da ein paar Dinge gesagt und Drohungen ausgesprochen wurden, von denen uns unser Management lieber nichts erzählt hat.“

Haben die Leute die Texte auf dem Album zu einem gewissen Grad vielleicht auch falsch interpretiert? „Vielleicht, in manchen Fällen. Ich denke, was ich sagen wollte, war, dass es nicht um die religiösen Werte geht, die wir uns durch intensives Studieren der Bibel erarbeiten oder uns aus den ritualisierten religiösen Diensten und Zeremonien ziehen, die in manchen Zweigen des Christentums so voller Pomp sein können. Das ist nicht das, worum es geht. Der Kern der Sache ist, die Spiritualität in allen Menschen zu erkennen, auch die der Figur, von der in ›Aqualung‹ oder ›Cross-Eyed Mary‹ gesprochen wird, einer Prostituierten. Ich wollte ausdrücken, dass wir alle ein angeborenes Gespür für Spiritualität in uns tragen und dass wir als Musiker etwas anbieten, das mit diesem Geist kommuniziert. Die Musik ist mit all diesen Dingen verstrickt, oft auf eine ritualisierte Weise, wie das ein Gottesdienst normalerweise auch ist, also sah ich dieses Album, diese Songs wohl als einen Weg, diesen Gedanken auszuformen, dass Spiritualität etwas ist, das über und unter und jenseits der Welt aus Pomp und Zeremonien in der organisierten Religion ist, nicht nur der christlichen. Aber ich war damals 24 und nicht auf der Universität gewesen, um Philosophie zu studieren. Ich plapperte einfach drauflos.“

Einer der Vorteile davon, in so jungen Jahren ein so wegweisendes Album gemacht zu haben, ist, dass Anderson ›Aqualung‹, ›My God‹ und ›Locomotive Breath‹ inzwischen nun schon sehr lange singt und folglich reichlich Gelegenheit hatte, sich über die Bedeutung dahinter Gedanken zu machen. Er ist kein keifender Atheist, vielmehr spricht er gerne ausführlich über seine Liebe zu Kirchen, „unser wundervolles Erbe historischer Gebäude“, und seine eiserne Überzeugung, dass das Christentum als positives Instrument genutzt werden könnte und sollte, um Gemeinschaften zusammenzubringen. Wenn es aber um die Details des Glaubens an sich geht, finden die Kirche und der Jethro-Tull-Frontmann keinen gemeinsamen Nenner. „Ich bin absolut skeptisch und zynisch gegenüber allen, die behaupten, Gott gefunden zu haben und die völlig in ihren unerschütterlichen Glauben eingetaucht sind. Alles Schwachsinn, denn ich weiß, dass selbst respektierte Kleriker zugeben werden – auch wenn manchmal erst ein Glas Rotwein die Lippen lockern muss –, dass Zweifel ein Teil von dem sind, was sie antreibt. Es gibt Tage, an denen man denkt, man hätte ihn verloren, diesen Glauben, und man ist verwirrt. Wie ein Geistlicher zu mir sagte: ‚Glaube und Zweifel gehen Hand in Hand‘, und ich finde es erfrischend, das zu hören. Das sollte immer der Fall sein. Von den höchstrangigen Klerikern zu den niedersten Laienpredigern in einer kleinen Gemeindekirche sollte man akzeptieren können, dass man diesen Glauben 50 Prozent, 80 Prozent oder 90 Prozent der Zeit spürt, doch wenn man wirklich denkt, man habe diesen Glauben immer zu 100 Prozent, dann lebt man in einer gefährlichen Blase. Ich würde gerne den Papst fragen, wie er darüber denkt! Ich habe mal den Erzbischof von Canterbury kennengelernt, doch das war nicht der Ort und der Moment dafür. Ich hätte es geliebt, ein richtiges Gespräch mit ihm zu führen, um zu sehen, ob so jemand, ein Mensch mit einer philosophischeren und wissenschaftlicheren Haltung zum anglikanischen Glauben, solche Zweifel einräumen oder zugeben würde, dass er weniger als 100 Prozent sicher ist. Ich wäre sehr überrascht, wenn das nicht so wäre.“

Wir kehren zu AQUALUNG selbst zurück, wenden uns dem Cover zu und fragen Anderson, was die Entscheidung inspirierte, nach den eher exzentrischen Artworks der ersten drei Platten eine ziemlich konventionelle, seiner Beschreibung in den Lyriks folgende Darstellung des Landstreichers aus dem Titelstück in Wasserfarben zu verwenden, wenn auch eine, die einem gewissen Sänger und Flötisten verdächtig ähnlich sieht. „Das ist nicht mein Albumcover“, sagt er entschlossen und verzieht das Gesicht bei dem Gedanken. „Ich mochte es überhaupt nicht und wollte es nicht so machen, aber Terry Ellis, damals der Manager der Band, war da praktisch in Vollzeit mit der Gründung und Entwicklung von Chrysalis Records beschäftigt. Er stürmte gerne in letzter Minute rein und drückte allem seinen Stempel auf. Das erste Album war ganz meine Idee, die Fotosession, bei der dieser seltsame Fisch in die Luft gehalten wurde und all das. Es war mein Entwurf und so, wie ich es haben wollte. Dann gab Terry beim zweiten Album den Holzschnitt und das ganze Popup-Ding in Auftrag, und BENEFIT war dann ein weiteres Cover von ihm, das ich wirklich überhaupt nicht mochte. Aber bei AQUALUNG hatte er ein Wasserfarbengemälde von irgendeinem Künstler im Time-Magazin gesehen, seinen Namen in Erfahrung gebracht und ihn dann damit beauftragt, eine Idee für ein Albumcover zu präsentieren. Ich weiß noch, wie ich bei Proben in einem Theater in The Strand war und Terry diesen Typen mitbrachte, der Fotos von mir in meinem alten Mantel machte, den ich seit den absoluten Anfangstagen von Jethro Tull hatte. Ich sagte: ‚Ich finde wirklich, dass wir diesen Typen nicht wie mich aussehen lassen sollten. Ich will nicht der Penner sein! Ich singe einen Song über diese Figur, aber das bin nicht ich!‘ Und als Nächstes hatten wir dann dieses Bild für das Cover, das mir unangenehm ähnlich sah, und ich war wirklich nicht glücklich darüber. Tatsächlich fand ich, dass es ein ziemlich mieses Gemälde war. Es war lebendig, aber die Farben gefielen mir nicht. Es war einfach ein schlampiges Stück Arbeit. Es hatte nicht die Kraft und die Klarheit, die ich wollte. Ich fand es nie gut als Albumcover.“

Trotz Andersons Kritik wurde das Cover von AQUALUNG zu einem der beliebtesten im Progrock mit äußerst hohem Wiedererkennungswert. 1971 wurde das Werk des Künstlers Burton Silverman schnell zum Synonym für Jethro Tull, und vielleicht ist das der Grund, warum deren Kopf es bis heute so verabscheut. Dazu kommt, dass Silverman später Geld von der Band für die kommerzielle Nutzung seiner Arbeit verlangte, was es mehr als nachvollziehbar macht, dass Anderson das Album am liebsten mit einem völlig neuen Artwork wiederauflegen würde. „Ja, das hat sicher nicht geholfen“, lächelt er. „Der Künstler wollte mich, das Management, die Plattenfirma und alle verklagen, die mit dem Album zu tun hatten, wegen der illegalen Verwendung des Bildes. Denn es sollte nur für eine Langspielplatte verwendet werden, das war zumindest angeblich die ursprüngliche Abmachung gewesen. Er bekam damals wohl 5.000 Dollar, wurde also ziemlich gut bezahlt von der Plattenfirma, die glaubte, damit die kompletten Rechte an dem Bild gekauft zu haben, das sie dann auf T-Shirts und was auch immer sonst verwenden konnte. Ich zuckte nur mit den Schultern und sagte: ‚Ich habe damit nichts zu tun, ich habe das Artwork nicht in Auftrag gegeben. Du musst dich an das Label oder Terry Ellis wenden‘. Und das war’s.“

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