Ein ermordeter chilenischer Protestsänger, ein gefeierter walisischer Dichter, Prog Rock und Nylongitarre – ungewöhnliche Zutaten machen aus der zweiten Soloplatte von Manic-Street-Preachers-Sänger James Dean Bradfield ein höchst bemerkenswertes Album.
Die erste Frage in diesen Tagen muss immer lauten: Geht es dir gut? Wie kamst du bisher klar in diesen Zeiten der Pandemie?
Danke, grundsätzlich lief’s gut. Sicher, man ist irgendwie nicht im Gleichgewicht. Aber ich habe zwei junge Kinder zuhause, die mich immer beschäftigten. Die vier Monate flogen regelrecht vorbei. Jetzt bin ich trotzdem froh, mal wieder „normal zu arbeiten“, wenn man so will.
Dein Album EVEN IN EXILE dreht sich ganz um den chilenischen Protestsänger
Victor Jara (1932–1973). Er war ein Freund und Unterstützer von Salvador Allende und wurde in den ersten Tagen des Mililtärputsches von den Truppen des Generals Pinochet ermordet. Eine faszinierende Persönlichkeit – und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich seine Geschichte nicht kannte. Aber es war sicher dein Ziel, Jara Leuten wie mir vorzustellen und ihm ein Denkmal zu setzen, oder?
Vor dem Album war Jara auch mir nicht viel mehr als ein Begriff. Ich kannte seinen Namen, denn vor mir haben ihm schon Bands wie U2, Simple Minds oder Calexico Tribut gezollt. Ich wusste, welchen enormen Status er in der Spanisch sprechenden Welt besitzt. Es war ein Freund von mir, der sich zuerst in die Sache reinsteigerte: mein Nachbar Patrick Jones. Pat ist Poet und Dramatiker – und der große Bruder von meinem ManicStreet-Preachers-Bandkollegen Nicky Wire. Patrick sammelte alles von Jara, Lieder, Texte, Biografien, Berichte, Fotos. Diese Unterlagen inspirierten ihn, eigene Gedichte und Kurztexte zu Jara zu verfassen. Eine ganze Mappe voll hatte er schon. Er sah das Ganze aber eher als eine Fingerübung. Für eine Veröffentlichung würden sich die Texte nicht eignen, sagte er. Auch nicht für einen Gedichtband oder eine Dokumentation. Als ich seine Texte las, lösten sie echt was in mir aus. Und dann kam mir die Idee. Ich fragte Pat: Was hältst du davon, wenn ich aus deinen Texten Songs machen würde? Zuerst war er skeptisch. Aber es klappte auf Anhieb. Ich habe also quasi Patricks Projekt für mich gekapert, haha. Klar ist aber, dass ich mich dabei auch voll in die Materie vertieft habe. Ich habe endlich Jaras Lieder gehört – in Zeiten des Internets geht das ja, in den 80ern hatte man natürlich viel schwerer Zugang dazu. Die Songs haben mich echt umgehauen. Sie sind so viel friedlicher, sanfter und wehmütiger, als man sich einen Protestsänger gemeinhin vorstellt. Jara sucht immer den Diskurs und will überzeugen – ganz anders als heute, wo jeder seinen politischen Gegner sofort niederschreit. Er ist eine Stimme der Vergangenheit, die auch heute noch absolut Sinn macht.
Hast du auch Jara-Songs gecovert oder zitiert? Ich bilde mir ein, einen südamerikanischen Einfluss auf diesem Rockalbum zu hören.
Nein, die Texte sind ausschließlich von Patrick. Ein südamerikanischer Einfluss? Also eigentlich habe ich sogar absichtlich NICHT mit chilenischen Musikern oder Instrumenten gespielt. Denn ich wollte mir nicht vorwerfen lassen, ich würde „cultural appropriation“ betreiben. Bei der Platte handelt es sich ganz ausdrücklich um den Blick auf Jara von außen. Aus einer westlichen Perspektive. Aber gut, ich hatte im Studio einen neuen Double Bass stehen, der auf der Platte viel zu hören ist. Und ich besitze eine Gitarre mit Nylon-Saiten. Letztlich ist es eine spanische Gitarre. Songs schreibe ich auf dem guten Stück schon seit Jahren. Aber erst jetzt habe ich sie zum ersten Mal auch im Studio aufgenommen. Vielleicht geben diese zwei Elemente dem Album ein gewisses Folk-Flair? Grundsätzlich jedenfalls ist das Album elektrischer Rock’n’Roll. Es ist auch stark von Prog Rock beeinflusst. Keine Ahnung, warum und ob das dem Thema angemessen ist – ich habe zuletzt einfach sehr viel die walisische 70er-Jahre-Band Man gehört und das hat zweifellos auf das Album abgefärbt. Das Instrumental ›Seeking The Room With The Three Windows‹
wiederum ist unverkennbar ein Tribut an Rush. Dann wiederum waren aber auch die
ganz frühen R.E.M. und die US-Early-PunkBand Death Einflüsse. Na ja, ich bin nun mal jetzt seit 30 Jahren Musiker, da suche ich nach neuen Kombinationen, damit es für mich spannend bleibt. Auch Patricks Texte pushen mich natürlich, etwas zu wagen.
Erstaunlich ist jedenfalls, wie es dir immer wieder gelingt, aus der Poesie anderer Autoren Lieder zu formen. Das geht ja schon seit GENERATION TERRORISTS (1992) so, dem Debüt der Manic Street Preachers. Aber es ist ja auch so: Ich habe Manics-Bassist bzw. -Texter Nicky Wire in der Vorschule kennengelernt. Wir waren vier Jahre alt! Wir zwei kennen uns so gut, dass wir untereinander fast in einer Geheimsprache sprechen. [Der an Depressionen und Anorexie leidende, seit 1995 verschollene und inzwischen für tot erklärte Gitarrist der ersten Bandjahre] Richey Edwards stieß nicht viel später zu uns. Wir waren Freunde, lange bevor wir eine Band gründeten. Und wenn die zwei mir ihre Texte gaben – Richeys waren sehr wortreich, Nickys sehr analytisch –, da hatte ich nie das Gefühl, etwas hinterfragen zu müssen. Ich spürte einfach immer, was sie sagen wollten. Deshalb fand ich es nie schwer, die Texte in Songs zu übertragen. Selbst Richeys ausuferndste Texte haben mich nie eingeschüchtert. Im Gegenteil, ich fand sogar, dass sie mich dazu einluden, Melodien für sie zu suchen. Bei Patrick jetzt ist es ähnlich. Er ist vier Jahre älter als Nicky. Als wir kleiner waren, schauten wir auf zu Pat. Er war der, der schon in den USA studiert hatte, er zeigte uns die spannenden Bands und die Beat-Autoren. Heute bin ich mit ihm so eng wie mit Nicky, also kann ich mich in seine Texte genauso einfühlen. Mir ist aber natürlich klar, dass ich ein Riesenglück habe, mein Leben lang von so intellektuellen Schreibern umgeben gewesen zu sein.
Aber trotzdem: So einfach ist das doch nicht, für solche komplexen Texte mal eben eine Melodie zu finden, die auch noch ins Ohr geht.
Ich will mich jetzt nicht als jemand aufspielen, der anderen Musiktipps gibt, aber ich mache
es so: Ich suche mir stimmige Akkorde und wenn ich die gefunden habe, dann probiere ich einfach. So: (wimmert) „AAAAOOUUHH!“ Natürlich darf mir niemand zuhören, ich muss alleine sein dabei. Denn zuerst klingt’s fürchterlich, immer. Aber über kurz oder lang stößt man auf eine Tonfolge, bei der man sagt: Hey, das hat was!