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Jethro Tull: Ian Anderson im Interview

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Jethro Tull: Ian Anderson im Interview

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Er hätte auch ein durchschnittlicher Blues-Gitarrist werden können. Stattdessen wurde er zum besten einbeinigen Flötenspieler der Welt und bescherte seiner Band Jethro Tull über 50 Jahre lang gute Kritiken und enormen kommerziellen Erfolg. Dieser Tage ist sein Lieblingshobby jedoch schlichtweg „das Aufwachen am Morgen“.

Es kommt zu einem seltsamen Moment, als Ian Anderson für sein Interview mit CLASSIC ROCK in Bath eintrifft. An einem regnerischen Wintermorgen steigt er in Anorak und Wollmütze gekleidet aus dem Zug und zieht seine Hand brüsk zurück, als ich sie schütteln möchte. „Ich will nicht unhöflich sein“, meint er. „Aber mein Gelenk schmerzt.“ Mit einem dünnen Lächeln fügt er hinzu: „Ich bin inzwischen fast so empfindlich wie Papst Franziskus, wenn jemand seine Hand schütteln möchte, ohne vorher zu fragen.“ Sein Bein macht dem an einem frühen Stadium von COPD – einem bei ihm schubweise auftretenden, unheilbaren Lungenleiden – erkrankten Künstler ebenfalls Probleme und wie es das Schicksal will, bockt natürlich genau das rechte. Eben jenes Bein, auf dem er seit 1967 immer stand, wenn er als Frontmann und Bandchef bei Jethro Tull Flöte spielte. Als „durchaus schmerzhaft“ beschreibt er seinen verdrehten Meniskus im Kniegelenk. Beide Verletzungen sind das Ergebnis der beruflichen Risiken, von denen viele Bühnenperformer ein Lied singen können.

2019 verstauchte sich Anderson sein Handgelenk bei einem Fall während einer Show. „Das Problem mit meinem Bein geht lange zurück. In den 70ern habe ich mir beide Knie ruiniert, weil ich ständig auf der Bühne herumstampfte. Aber immerhin ist das in den letzten Jahren wieder besser geworden, ich sollte mich also eigentlich freuen“, erzählt er schulterzuckend. Zu Beginn unseres Gesprächs in der Bar des Francis Hotels fällt einem auf, dass Small Talk nicht unbedingt zu Andersons Stärken zählt. Stattdessen taucht er ab in eine detaillierte Analyse all jener Fehler, die die Labour Party bei der letzten Wahl Stimmen gekostet haben, bevor er seine Unterstützung der Liberalen Demokraten kundtut. Wie er es selbst ausdrückt: Er ist nicht unbedingt der Archetyp eines Rockmusikers.

Ian Scott Anderson wurde am 10. August 1947 in Dunfermline in Schottland geboren. Er war noch ein Teenager und lebte in Blackpool, als er 1963 bei seiner ersten Band namens The Blades einstieg. Als Sänger, Gitarrist und Mundharmonikaspieler verdiente er sich seine Sporen in verschiedenen Bluesbands, bevor er 1967 nicht nur zum ersten Mal eine Flöte in die Hand nahm, sondern auch Jethro Tull gründete – benannt nach einem Landwirt aus dem 18. Jahrhundert. Durch eine Reihe an Meilensteinen wie AQUALUNG, THICK AS A BRICK, MINSTREL IN THE GALLERY und SONGS FROM THE WOOD und ihre eigentümliche Mixtur aus Prog-Rock, Hardrock und Folk wurden Tull in den 70ern zu einer der größten Bands überhaupt. Und während viele Musiker die Formation in ihrer langen Historie wieder verließen, bleibt Anderson auch heute mit 73 Jahren der Kapitän des Schiffs. Ausschweifender Rhetoriker und geistreicher Erzähler und Denker, der er nun mal ist, breitet er die Geschichte seiner Band in über zwei Stunden vor uns aus. Erst noch bei einer Tasse Kaffee, dann etwas später bei einem großen Scotch. Er beginnt bei den frühen Erinnerungen eines Kleinstadtjungen aus Schottland, der in der Musik etwas gefunden hatte, das den Rest seines Lebens formen sollte …

Du bist in den frühen 50ern in Dunfermline aufgewachsen. Welche Musik hat einen nachhaltigen Eindruck bei dir hinterlassen?
Ich ging auf die Sonntagsschule. Die erste Musik, die ich jemals hörte, war also Kirchenmusik sowie kleine Schnipsel schottischer Volksmusik. Als ich acht Jahre alt war hörte ich Big-Band-Jazz und kurz danach den frühen Elvis, als er noch gefährlich und nicht paillettenbesetzt war. (lacht)

Bist du freiwillig in die Sonntagsschule gegangen?
Nein, ich hatte panische Angst vor Kirchen, weil ich nicht verstand, was darin vor sich ging. Ich hinterfragte Religion, war wütend darüber. Ich hatte eine ehrliche Abneigung gegenüber den Dogmen der christlichen Religion, mit der ich aufgewachsen war. Diese Art, Menschen in Jesus’ Arme hinein zu ängstigen oder in den Dreizack des Teufels …

Als du 12 warst, seid ihr nach Blackpool in England gezogen. Dort hast du deine Teenager-Jahre verbracht. Welche Erinnerungen aus dieser Zeit sind am stärksten verankert?
Als ich 16 war, bekam ich dieses Ding namens „Folk Revival“ mit. Da hörte ich zum ersten Mal Bob Dylan, fand ihn aber ziemlich unsympathisch. Gleichzeitig kam ich aber auch auf Muddy Waters, der mir den Blues nahebrachte. Vor allem akustischer Country-Blues ebnete meinen Weg in die professionelle
Musikwelt. Als ich in Blackpool aufwuchs, waren Alkohol, Schlägereien und Drogen allgegenwärtig und trotzdem begann ich erst mit dem Trinken, als ich 25 und mit Tull auf Tour war. Mit 17 hatte mir mal jemand ein Lager spendiert und ich habe es sofort wieder auf die Straße erbrochen …

Und was war mit den Drogen?
Klar wusste ich Bescheid. Ich sah Leute, die im „Twisted Wheel“ in Manchester Pillen einwarfen. Außerdem ging ich auf die Kunstschule und viele Typen dort rauchten Marijuana. Ein Schulkamerad hatte Flecken auf den Armen. Ich dachte, er hätte einen Ausschlag, aber er meinte, das wäre von den Heroin-Nadeln. Immerhin hat er nie versucht, mich anzustiften. Drogen nahm ich immer als Bedrohung war. Ich mag es nicht, wenn meine Wahrnehmung oder meine Auffassungsgabe getrübt werden.

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