HipHop hat den Größten! Marktanteil, um genau zu sein, und zwar in den USA. Ist das jetzt irgendwie interessant? Geht so. Aber erneut Anlass zu kruden Schlussfolgerungen. Da können wir locker mithalten!
Frank Zappa, der schlimme Sarkast, meinte ja einst, dass Jazz zwar noch nicht tot sei, aber schon komisch rieche. Selbstversuche bei diversen Jazzkonzerten deuteten zwar nicht grundsätzlich auf olfaktorisch Fragwürdiges hin, aber man ahnt, was er damit sagen wollte: Die Zeiten, als Jazz noch Dance und Pop war, also Mainstream-Kultur fürs amüsierbedürftige Volk, sind schon länger vorbei. Was aber streng genommen genauso viel Erkenntnisgewinn generiert wie die Feststellung, dass smarte Mobiltelefone heute populärer seien als beige-graue Fernsprechtischapparate der Deutschen Bundespost. Und ja: Rockmusik ist als Jugendkultur nicht mehr konkurrenzlos. So seit ungefähr 30 bis 40 Jahren. Eine bahnbrechende Neuigkeit, nicht wahr?
Nun also hat das Medienunternehmen Nielsen herausgefunden, dass in den USA der HipHop die Rockmusik erstmals als beliebtestes Genre abgelöst hat, die Battle endete 25 zu 23 Prozent. Was hiphop.de zur Titelzeile „Der Beweis: HipHop ist größer als Rock“ inspirierte und „Zeit Online“ schon zu Nielsens Halbjahresbilanz (und nicht völlig frei von Häme) jubeln ließ: „Die Gitarrenmänner ziehen sich zurück“. Für uns kann das natürlich nur eines bedeuten: Wir stellen die Produktion dieses Heftes umgehend ein, denn Rockmusik interessiert leider keine Sau mehr, außerdem karren wir unsere Plattensammlungen gleich zum Wertstoffhof – kaufen will die sicher ohnehin keiner mehr – und hören künftig ausschließlich Musik mit Sprechgesang. Endlich auf der Höhe der Zeit!
Gemach, Gemach! Derlei Trendgequatsche und damit assoziierte Todesanzeigen hat man als mittelalter Mensch gefühlte 47 mal vernommen. Da gab’s etwa zu Anfang der 90er verdammt aufgekratzte Techno-DJs, die Rockmusik im fortgeschrittenen Verwesungszustand und elektrische Gitarren komplett museumsreif wähnten. Irgendwie kam es dann aber doch ein wenig anders: Kurt Cobain war plötzlich cool, ein Metal-Festival in Schleswig-Holstein verhundertfachte seine Zuschauerzahlen, Acts wie Nine Inch Nails und Rage Against The Machine versöhnten Industrial-Beats und Rap mit – oh mein Gott – elektrischen Gitarren. Aber die respektierten Freunde des Hips und auch des Hops mussten zweifellos ebenfalls schon einiges ertragen. Etwa 2008 einen Artikel im Jugendkultur-Fachblatt „Die Welt“ mit dem Titel „HipHop ist komplett am Ende“. Das roch nach letzter Ölung, war aber, genauso wie entsprechende Rock-Nachrufe, vor allem eines: Bullshit.
Nun mag es für die bornierteren Zeitgenossen verlockend sein, einem Genre, mit dem man persönlich nicht allzu viel anfangen kann, aufgrund irgendwelcher Marktanalysen oder Moden mit triumphierendem Tonfall den Totenschein auszustellen. Die Sache hat nur einen Haken: So schnell wird nicht gestorben. Selbst der Blues, für manche Menschen der Inbegriff des ewig Gestrigen und deshalb völlig überflüssig, behauptet seine Nische, die mal kleiner, mal größer ausfällt. Mitte der 90er etwa erlebte er mal wieder ein kurzzeitiges Revival, worüber der Autor dieser Zeilen damals mit Chris Robinson sprach, dem Sänger der Black Crowes. Der konnte den seinerzeitigen Hype nicht recht nachvollziehen und sprach den denkwürdigen Satz: „Da, wo ich herkomme, gehört Blues seit Jahrzehnten zur Alltagskultur, er war nie weg.“ Genau das ist das magische Wort: Alltagskultur. Zu der gehören Rock und HipHop, Soul und Electro, Blues, Dancehall, Metal, R&B und noch viel mehr. Das ganze bunte Programm. In Deutschland sogar Helene Fischer, aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls lässt diese Vielfalt eine schlichte Prozentrechnung ein wenig kleinkariert aussehen.
Viel interessanter ist doch ohnehin der Blick in die Zukunft: Wo gibt’s denn spannende Impulse? Wer erfindet das Rad neu? Da haben es Genres, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben, naturgemäß schwer, oder anders gesagt: Der Blues dürfte weitgehend auserzählt sein, mit bahnbrechenden Innovationen sollte man eher nicht rechnen. Aber so wie er ist, ist er ja auch schon ganz gut, oder? Ob der vergleichsweise junge HipHop noch epochale Umwälzungen anstoßen wird, ist allerdings ebenso fraglich – im Detail geht immer was, auch allerlei (meist verzichtbare) Crossover-Ansätze sind denkbar, aber ansonsten leidet doch die gesamte Populärkultur unter dem Fluch der Postmoderne: War alles schon mal da. Zumindest fast. Okay, Metal-Dubstep-Country-Soul wäre neu, klingt jetzt aber auch ein wenig konstruiert.
Egal, ob im Rock, HipHop oder anderswo – entscheidend dürfte auch in Zukunft die subjektiv empfundene Relevanz sein: Hat das, was uns irgendein musikmachender Mensch um die Ohren haut, einen Bezug zu unserem Leben, unserer Realität,unseren Gefühlen? Ob das nun hochpolitisch ist oder reiner Eskapismus: zweitrangig. Ob dazu eine Gitarre gniedelt, ein Turntable kratzt oder eine Oboe tutet: völlig egal. Nur eine Bitte: keine plumpen, reaktionären Klischees mehr! Es gibt schon mehr als genug Dummbratzen-Songs über schnelle Karren, dicke Eier, devote Bitches und massig Dollarscheine. Im HipHop, aber auch im Rock. Lasst das doch einfach! Vielen Dank.