Traurig, aber wahr: Es gibt nach wie vor nur wenige wirklich bekannte Gitarristinnen. Die Saitenfrau von Heart ist eine dieser wenigen und hat andere inspiriert, um ihr Recht zu kämpfen.
Hätte man der zwölfjährigen Nancy Wilson erzählt, dass eines Tages Signature-E-Gitarren mit ihrem Namen in den Läden stehen würden, hätte sie vielleicht gelacht. Oder vielleicht hätte sie nichts Ungewöhnliches daran gefunden. In dem Alter verfolgte sie schon seit drei Jahren das, was sie als „die Berufung meines Lebens“ bezeichnet. „Ich war besessen“, sagt sie. „Ich lief immer zum örtlichen Musikladen und sah mir die Gitarren an, weil ich selbst noch keine gute hatte. Einer der Gründe, dass ich wirklich stark geworden bin, war, dass meine erste Gitarre unspielbar war. Zu lernen, wie man darauf einen F-Akkord greift, tat ichtig weh. Also schnappte ich mir im Laden eine gute Gitarre, setzte mich hin und spielte ›Anji‹ von Paul Simon. Die Leute blieben mit offener Kinnlade stehen und sagten: ‚Wow, sieh dir an, wie das kleine Mädchen auf dieser großen Gitarre abgeht!’“ Wilson erzählt diese Geschichte mit mehreren herzlichen Lachern. Die jüngere der Wilson-Schwestern zeigt im Gespräch eine charmante Mischung aus selbstironischem Humor und ernsthaftem Musiknerd-Wissen. Der Humor erwies sich als hilfreich über das vergangene Jahr, als die fast 50 Jahre währende Dynamik von Hearts Classic-Rock-Reise unerwartet pausieren musste, ebenso wie der Rest der Welt. Nancy nutzte den Zwangsurlaub, um zwei lange aufgeschobene Projekte zu realisieren: die Epiphone Fanatic Signature-Gitarre, die sie entwickelt hat, und ihr erstes Soloalbum, YOU AND ME, mit Gastauftritten von Sammy Hagar und Duff McKagan, Coverversionen von Bruce Springsteen und Pearl Jam sowie selbstkomponierten Rocknummern und akustischen Juwelen. „Ich weiß nicht, warum ich dafür so lange gebraucht habe. Vielleicht war ich in dem ganzen Heart-Strudel gefangen.“
Als du in den 80ern deinen ersten Entwurf für die Epiphone Fanatic designt hast, was war da deine Vision?
Der Grundgedanke war, eine Les Paul in Juniorgröße zu machen, die für eine Frau leichter handzuhaben war. Keine große, schwere Les Paul. Das sind die klassischen Könige von Gibson. Aber ich wollte etwas Leichteres, mit einem Ausschnitt, der eine weibliche Silhouette wiedergibt. Und mit derselben Rock’n’Roll-Autorität.
Wieso dauerte es so lang, bis sie Realität wurde?
Nachdem ich meinen Entwurf abgeliefert hatte, kam es bei Gibson zu einer großen Umstrukturierung und mein Projekt ging darin verloren. Dann kamen vor ungefähr fünf Jahren ein paar Leute von Epiphone [eine Marke von Gibson] zu einer Heart-Show und sagten: „Wir hörten, dass du mal eine Gitarre entworfen hast. Willst du das wieder aufgreifen?“ Sie hatten immer noch meine Zeichnungen, also bauten sie einen Prototyp und nannten ihn die Nighthawk. Ich fand sie ziemlich perfekt, aber ich wollte sie nur noch ein bisschen hilfreicher machen, mit Verzerrfähigkeit und einem Fünf-Wege-Schalter. Und ich wollte keine Goldbeschläge, sondern Silber. (lacht) Und so entstand dann das, was ich in die Fanatic umbenannte. Heart arbeiteten damals an dem Album FANATIC. Ich fand, das war ein viel rockigerer Name, „Nighthawk“ klang irgendwie zu banal. Für eine neue Gitarre klingt sie eigentlich mehr wie eine klassische Gitarre. Sie hat diese kräftige Dreckigkeit, die man will.
Wir stellen eine Liste von einflussreichen Gitarrist*innen zusammen. Wer wäre für dich die oder der unterbewertetste Gitarrenheld*in?
Paul McCartney, denn er spielt unglaublich gut Lead und akustisch. Möglicherweise ist er sogar der insgesamt unterschätzteste Gitarrist. Die Leute achten da nicht so darauf, weil sie sich auf sein Songwriting und seinen Gesang konzentrieren. Aber hör dir nur sein letztes Album an. Wie er sich da selbst auf der Akustischen begleitet, sein Lead-Spiel… Es ist umwerfend!
Paul hat als Leadgitarrist ein so unverwechselbares Vibrato, dass man ihn schon ab der ersten Note erkennt.
Ist das nicht verrückt? Es gibt einige Spieler, die man sofort erkennt – David Gilmour, Stephen Stills, Neil Young –, und Paul McCartney ist einer von ihnen.
Du bist auch Fan von Joni Mitchell. Kannst du etwas über ihr Spiel erzählen?
Ihr ganzer Ansatz an die Tunings und ihre Positionen innerhalb dieser Tunings sind eigentlich gar kein Gitarrenspiel mehr, sondern mehr wie ein Orchester. Das ist wie eine ganze Sprache, die sonst niemand spricht. (lacht) Ihr Spiel klingt, als würde sie Landschaften malen. Die Tunings, ebenso wie ihre Texte und Melodien, sind so großflächig. Wie wenn man aus der Vogelperspektive auf Menschen schaut.
Als Heart in den 70ern ihren Durchbruch hatten, wie hast du da die Wahrnehmung von dir als Gitarrenheldin erlebt?
Ich fühlte mich wie etwas Besonderes, und als hätte ich etwas erreicht. Und ein bisschen wie eine Angeberin. (lacht) Ich prahlte mit meinen Fähigkeiten, die niemand von mir erwartete. Denn ich hatte sehr hart dafür gearbeitet, spielen zu lernen, seit ich neun war und die Beatles im Fernsehen gesehen hatte. Ich habe oft in meinem Leben gehört: „Ziemlich gut für ein Mädchen“. Aber das war mir egal. Ich war einfach so stolz und hatte diesbezüglich auch ein ziemliches Ego. Das half mir, besser zu werden, später dann auch, in die Band zu kommen
und die ganze selbstdarstellerische Show abzuziehen, die mir so gefällt. (lacht)
Wie hat die Live-Pause 2020 den Klang deines ersten Soloalbums beeinflusst?
Es war fast, als hätte mir jemand als Hausaufgabe aufgezwungen, zu mir selbst vor Heart zurückzukehren. Ich stieg mit 21 bei Heart ein, und es war in den Jahrzehnten seither so ein Wirbelwind: Tournee, Album, Tournee, Album … So verdiente man seine Brötchen, und es war ein wirklich großartiger Job. Das Reisen ist schwer, aber die zwei Stunden auf der Bühne sind die ganze Erschöpfung wert, um dahin zu kommen. Ich wurde immer wieder mal gefragt: „Wann machst du ein Soloalbum?“ Ich veröffentlichte einen Live-Mitschnitt, LIVE AT MCCABE’S GUITAR SHOP. Das war eher ein nachträglicher Einfall. Ich hatte aber auch viele Scores für diverse Filme gemacht, und viel davon war auch, als würde man ein akustisches Solo-Instrumentalwerk herausbringen. Und dann hatte ich endlich dieses Jahr, und ich war gerade nach Nordkalifornien gezogen, wo ich zum ersten Mal überhaupt meinen eigenen Raum zum Musikmachen habe. Das gab mir die Chance, zu sagen: „Warum stelle ich nicht meine
tollen Verstärker und meine tollen Gitarren in die- sen Raum, wo ich alles aufgebaut lassen und so viel Lärm machen kann, wie ich will?“ (lacht)
Du hast dich wieder mit Sue Ennis zusammengetan, mit der du schon früher gearbeitet hast.
Es war schon immer eine großartige Erfahrung, mit ihr Musik zu schreiben, und ebenso mit meiner Schwester Ann. Für das Titelstück, ›You And Me‹, hatten wir zum Beispiel beide einen anderen Song an unsere Mütter geschrieben, die nicht mehr unter uns sind. Meiner hieß ›You And Me And Gravity‹, ihrer hieß ›Follow Me‹. Sue hatte diese wirklich coole Musik, also sagte ich, warum machen wir nicht einen Hybriden aus unser beider Texten? Wir strickten sie dann zusammen und nannten es ›You And Me‹. Das lief per SMS und Telefonaten, wir schickten einander Texte und Ausschnitte. Für das gesamte Album war nie jemand gleichzeitig im selben Raum. Aber die Typen, die darauf gespielt haben, waren alle mit mir und Heart auf Tour, also wissen wir alle, wie die jeweils anderen spielen.
Du hast vier Coverversionen aufgenommen, darunter Songs von Bruce Springsteen und Pearl Jam. Was bewegt dich dazu, ein bestimmtes Stück covern zu wollen?
Ich hatte Springsteen am Broadway gesehen, und diese Songs, reduziert auf Gitarre und Stimme, waren so kraftvoll. An dem Abend schwor ich gewissermaßen, dass ich einen dieser Songs singen würde. Und ich dachte, nachdem ›The Rising‹ über 9/11 geschrieben worden war und wir uns in einer Art neuen 9/11-Situation befanden, wo die Seelen so vieler Menschen von uns gingen, dass es relevant wäre. Ich liebe das Ergebnis. Der Standpunkt einer Frau verlieh dem Song einen mütterlichen Aspekt, den ich gar nicht erwartet hatte.
›4 Edward‹ ist ein wunderschönes Instrumental, das du Edward Van Halen gewidmet hast.
Wir tourten in den 80ern mit ihnen und Eddie sagte mir eines Abends nach einer Show, dass er nicht eine einzige akustische Gitarre besaß. Also nahm ich mir meine Lieblings-Ovation, kam damit in sein Hotelzimmer und drückte sie ihm in die Hand. Im Morgengrauen am nächsten Tag – er war eindeutig die ganze Nacht wachgeblieben (lacht) – rief er mich auf meinem Zimmer an und sagte: „Hey, ich habe etwas für dich auf der Gitarre geschrieben, die du mir gegeben hast. Hör’s dir mal an!“ Er saß wahrscheinlich im Schneidersitz auf seinem Bett mit dem Hörer neben sich, und ich lag einfach nur da und hörte zu. Es war ein wirklich wunderschönes Akustikstück. Ich wünschte so sehr, dass ich es wieder hören könnte. Vielleicht existiert irgendwo eine Aufnahme davon. Ich dachte mir dann, ich sollte ihm auf diesem Album meinerseits ein akustisches Instrumental widmen. Es war ein so trauriger Tag für den Rock’n’Roll, als der Einstein der Gitarristen verschwinden musste. Eddie spielte immer mit solcher Freude. Er hatte dieses Drei-Meilen-Lächeln.