BIG BANG IN MEMPHIS
Memphis mit seinen damals knapp 400.000 Einwohnern ist für die Presleys ein Schock. Ihre erste Bleibe: eine dreistöckige Mietskaserne, die über sechzehn Räume verfügt. In jedem dieser Zimmer lebt, kocht, isst und schläft eine komplette Familie, unter ihnen nun auch die Presleys: Vater Vernon, Mutter Gladys, Elvis sowie Grandma Minnie Mae. Erst ein Jahr später wird es ihnen gelingen, die Slum-Behausung gegen den relativen Luxus einer Sozialwohnung einzutauschen.
Doch etwas anderes prägt den jungen Elvis viel stärker: In Memphis sendet WDIA, „Amerikas einzige schwarze 500.000 Watt-Radiostation“, wie WDIA stolz für sich wirbt. Unter den DJs des Senders: B.B. King und Rufus Thomas. Und noch etwas wird sich sehr bald als bedeutsam erweisen: Einen jungen Rundfunkingenieur namens Sam Phillips zieht es von Nashville ebenfalls nach Memphis, wo er 1950 mit 27 Jahren ein kleines Plattenlabel gründen wird: Sun Records. Noch vier Jahre bis zu Bill Haleys ›Rock Around The Clock‹.
Nur noch drei Jahre, bis Elvis Presley an einem Augusttag des Jahres 1953 Phillips’ „Memphis Recording Studios“ aufsuchen wird. Doch nicht Sam Phillips ist es, dem der 18-Jährige dort begegnet, sondern eben jene Vorzimmerdame namens Marion Keisker. „Was für eine Art von Sänger sind Sie?“, fragt sie den jungen Mann. „Wie singen Sie? Wie wer?“ Elvis antwortet: „Ich singe überhaupt nicht wie irgendwer sonst.“ Elvis singt zwei sentimentale Balladen ein: ›My Happiness‹ und ›That’s When Your Heartaches Begin‹, beides nicht die Art von Musik, für die sich Sam Phillips erwärmt. In seinem winzigen Studio in der Union Street nimmt er hauptsächlich schwarze Bluesmusiker auf: Howlin’ Wolf, Junior Parker, Little Walter und auch Jackie Brenston, der mit der Ike-Turner- Band 1951 bei Sun das legendäre ›Rocket 88‹ einsingt, jenes Lied, das heute gemeinhin als der erste Rock’n’Roll-Song der Musikgeschichte gilt. Phillips verdient allerdings kaum Geld an dem Stück, da er die Aufnahme sehr schnell an Chess Records in Chicago verkauft.
An Balladen zeigt Phillips dagegen wenig Interesse, und so lässt er sich über ein Jahr Zeit, ehe er Elvis zu professionellen Aufnahmen ins Studio holt – und das auch nur, weil Marion Keisker ihren Chef immer wieder auf den gutaussenden Burschen mit den Koteletten aufmerksam macht. „Ohne diese Dame hätte ich keine Chance bekommen“, so der King später. „Diese Frau glaubte an mich.“ Und nun setzt endgültig die Legendenbildung ein. Eine Version der Geschichte lautet wie folgt:
Am 5. Juli 1954 lässt der Sun-Chef den jungen Mann mit dem fremdartigen Aussehen drei Balladen einsingen. Doch Phillips ist mit dem Ergebnis nicht zufrieden, weshalb er diese Aufnahmen auch später nie herausbringen wird. Und dann schließlich passiert es. Mit den Begleitmusikern Bill Black und Scotty Moore, die Elvis bei den Aufnahmen begleiten, entsteht in einer Pause, quasi spontan, etwas völlig Neues, noch nie da Gewesenes.
„Plötzlich fing Elvis an, wie verrückt zu spielen und ein Lied zu singen“, wird Gitarrist Scotty Moore oft zitiert. „Bill hob den Standbass auf, und ich spielte auch mit. Sam steckte plötzlich seinen Kopf aus dem Kontrollraum und fragte uns: ›Was zum Teufel macht ihr da? – Versucht, einen Anfang zu finden und macht es noch mal!‹“ Die Aufnahme, die auf diese Weise entsteht, ist ›That’s All Right (Mama)‹ aus der Feder des schwarzen Blues-Sängers Arthur „Big Boy“ Crudup. Sie wird zum Katalysator von Elvis’ Karriere und für den Rock’n’Roll zum Big Bang.
Elvis selbst erinnert sich an diesen Tag rückblickend ganz anders. Ihm zufolge entstand die Nummer keineswegs spontan. „’Willst du es mal mit einem Blues versuchen?‘, fragte mich Phillips am Telefon. Er wusste, dass ich diese Musik immer schon mochte. Er ließ den Namen Big Boy Crudup fallen und vielleicht noch einige andere, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich die fünfzehn Häuserblocks zu Mr. Phillips Studio zurückgelegt hatte, ehe er überhaupt den Hörer auflegen konnte – so sagt er jedenfalls.
Wir sprachen über Platten von Crudup, die ich kannte, und einigten uns schließlich auf ›That’s All Right‹.“ Mit einer Vorabpressung des Songs eilt Sam Phillips am 7. Juli zu einem bekannten Radio-DJ namens Dewey Phillips (nicht verwandt und nicht verschwägert), der beim örtlichen Radiosender WHBQ mit großem Erfolg Songs farbiger Musiker spielt. Die Reaktionen der Hörer auf ›That’s All Right‹ kommen prompt: Die Telefone des Senders stehen nicht mehr still. Was dazu führt, dass Dewey Phillips die Scheibe in derselben Sendung vierzehnmal hintereinander spielen muss. Elvis selbst bekommt von diesem ersten Erfolg nicht das Mindeste mit. Er hat sich in einem Kino versteckt.
HAIL, HAIL, ROCK’N’ROLL
Vor Elvis hatte es in Sachen Jugendmusik im Großen und Ganzen nur Bill Haley gegeben. Dessen ›Rock Around The Clock‹ bringt nach und nach eine Lawine ins Rollen. 1955 wird der Song ein Hit in Staaten, dann in England und schließlich in der ganzen Welt. Der Rock’n’Roll ist geboren – von einem dicklichen Mann, der Vater von fünf Kindern ist und mit einem Sexsymbol so viel Ähnlichkeit hat wie eine Warze mit einer Perle. Trotzdem: Teenager überall auf der Welt sind euphorisiert. Damit es jedoch richtig losgehen kann, braucht es jemanden, der Ausstrahlung hat, jemanden Junges, der Exklusivbesitz der Teenager ist und von der Elterngeneration verdammt und abgelehnt wird.
Elvis Presley bringt all diese Voraussetzungen mit. Etwas Ge-fährliches verbirgt sich in seiner Stimme. Er wirkt androgyn, fast wie von einem anderen Planeten. Die Bewegungen, die er beim Singen vollführt, sind unmissverständlich. Die amerikanischen Teenager, gefangen in einem Alltag aus gesellschaftlichen Zwängen und spaßfreier Tristesse, hatten insgeheim auf das göttliche Manna gewartet. Nun ist direkt vor ihren Augen ein verteufelt sexy aussehender Messias erschienen und verteilt es reichlich an sie. Es ist die Geburtsstunde einer neuen Weltreligion, der man den Namen Rock geben wird.
Und wie jede andere gottverdammte Religion auch, beruht sie auf einem dreisten Versprechen: Euer Leben ist mies, aber frohlocket, denn es gibt Hoffnung für euch. Von Anfang an beruht die Wichtigkeit von Elvis darauf, dass plötzlich deutlich wurde, welch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor die Teenager sind. Keiner der altgedienten Plattenbosse, die Hunderte von Schmuse- und Schnulzensängern unter Vertrag haben, um an das Geld der Erwachsenen zu kommen, ist sich bis dahin darüber im Klaren gewesen, dass sich mit diesen hysterisch schreienden Kids noch weitaus mehr Geld scheffeln lässt.
Noch aber ist die Maschinerie nicht richtig ins Laufen gekommen. Sun Records ist nicht breit genug aufgestellt, um Elvis Presley landesweit zu etablieren. Doch es herrscht Goldgräberstimmung – wenngleich noch niemand ahnt, welche Entwicklung alsbald ihren Lauf nehmen wird. Springen wir mutig knapp über fünfzehn Jahre nach von und werfen wir einen Blick auf das, was noch kommt.
Starker Bericht. Danke.
Kann mich bestens an seinen Todestag erinnern, hat mich damals (wie heute) schwer berührt.