„Hart bleiben, hungrig bleiben, lebendig bleiben“: Bruce Springsteen schreibt sich seine Dämonen von der Seele.
Es ist Anfang der 80er Jahre, sein Album NEBRASKA ist gerade erschienen und Bruce Springsteen hat sich einen kleinen Bungalow in den Hollywood Hills zugelegt. Dort will er den Winter an der Westküste verbringen. Sonne, Erholung, Freiheit. Doch dann passiert es: „Meine Depression sprudelt wie Öl aus einem lecken Tanker direkt in den wunderschönen türkisblauen Golf meiner sorgfältig geplanten Existenz.“ Ein „zähschwarzer Schlamm“ droht alles Leben zu ersticken. Die innere Finsternis, die hier beschrieben wird, macht den Kern von Springsteens Memoiren aus. Sie ist der Schatten, der über dem Leben liegt, das in „Born To Run“ wie ein Panorama vor uns ausbreitet wird.
Los geht alles in Freehold, einer verschlafenen Arbeiterstadt in New Jersey, deren Bevölkerung sich vor allem aus irisch- und italienischstämmigen Einwanderern zusammensetzt. Die gesellschaftlichen Aufstiegschancen stehen schlecht, die Familien sind streng patriarchalisch strukturiert und katholisch-konservative Wertvorstellungen engen das Leben noch zusätzlich ein. Zumindest für den kleinen Bruce wird seine Heimat zum Gefängnis. Bis sich eines Tages alles ändert und ein „grell blendender Lichtblitz“ einschlägt „als würde das Universum eine Milliarde Sonnen gebären“. Mit einem Mal waren da „Hoffnung, war da Sex, Rhythmus, Begeisterung“. Der junge Elvis war im TV aufgetreten, und plötzlich hatte sich eine Tür aufgetan. „Die Befreiung aus dem Kleinstadtgrab, in dem all die Menschen, die ich von ganzem Herzen liebte und fürchtete, mit mir zusammen beerdigt lagen“, schien greifbar.
Der Funke des Rock’n’Roll war übergesprungen, doch damit begannen die Probleme erst so richtig. In einem Umfeld, in dem es reichte, lange Haare zu haben, um als Freak zu gelten, war man schnell der Außenseiter. Besonders, wenn der ärgste Feind im eigenen Zuhause saß. Springsteen beschreibt seinen Vater als „privates Ein-Mann-Minenfeld“. Apathische Phasen wechselten mit „der nächsten unvermeidlichen Detonation“. Erst sehr viel später sollte beim Vater eine psychische Erkrankung diagnostiziert werden, die auch den Sohn nicht verschonen sollte. „Die bipolare Störung. Sie steckt in unserer Familie wie das Gimmick in der Cornflakes-Schachtel.“ Springsteen kämpfte gegen seine Dämonen an, stürzte sich in Arbeit, verarbeitete seinen Schmerz und den Konflikt mit seinem Vater in seinen Songs (›My Father’s House‹, ›Independence Day‹), verausgabte sich auf der Bühne „als manisch depressiver Trapezkünstler“ bis zum Letzten und lief vor seinem Leben davon. „Ein bewegliches Ziel trifft man schwerer, einen Blitz fängt man nicht ein.“ Nur nicht stehenbleiben, nur nicht sesshaft werden: „Ich wollte vernichten, was mich liebte, weil ich es nicht ertragen konnte, geliebt zu werden.“
Die Passagen, in denen Springsteen von seinen inneren Konflikten spricht, gehören zu den stärksten des Buchs. Die Schilderungen seiner Krankheitssymptome sind klar und poetisch, jedoch frei von jedem Genie-und-Wahnsinn-Kitsch. Erst nach seinem Zusammenbruch in den frühen 80ern, als alle Arbeit nichts mehr hilft, begibt sich Springsteen in Behandlung. Er nimmt bis heute Medikamente ein.
So ist „Born To Run“ ein großer Krankheitsbericht geworden. Doch es ist nicht nur das. Es ist auch ein Rückblick auf das Amerika der vergangenen 60 Jahre, eine Feier des Rock’n’Roll und eine Würdigung von Springsteens Helden: Elvis, Bob Dylan, Roy Orbison, Sam Cooke, Phil Spector, die Stones, die Beatles, die Soul-Größen der 50er und 60er Jahre. Und es ist, natürlich, eine Hommage an die E Street Band, mit der der Mann aus New Jersey auch heute noch unterwegs ist, um immer wieder in die Nacht hinauszuschreien: „IST DORT DRAUSSEN IRGENDJEMAND NOCH AM LEBEN?!“
9/10
Born To Run
VON BRUCE SPRINGSTEEN
Heyne