Wenn Tom Scholz in seinem Kellerstudio vor den Toren der Ostküstenmetropole tüftelt, haben Zeit und Raum keinerlei Bedeutung. Was aber nicht der einzige Grund ist, warum der baumlange Schlaks für sein neues Album geschlagene elf Jahre gebraucht hat. Denn ausnahmsweise ist im Leben des Phantoms mal richtig viel passiert – und nur Positives.
Weshalb es vor einem der seltenen Gesprächstermine mit dem 66-jährigen Produzenten und Songwriter auch eine lange Liste mit Auflagen seines Managements gibt. Eben Fragen, die man auf gar keinen Fall stellen dürfe, weil sich der „extrem sensible Künstler“ sonst persönlich angegriffen fühle und das Gespräch sofort abbreche. Das gelte insbesondere für Themenbereiche wie den Tod von Sänger Brad Delp, der 2007 Selbstmord begangen hat, aber auch im Hinblick auf diverse Ex-Mitglieder, die sich mit Clubkonzerten als „Ex-Boston“ sowie Coverversionen des Scholz’schen Liedguts über Wasser halten wollten. Worauf der medienscheue Rockstar, der allein von seinem legendären 76er-Debüt 17 Millionen Exemplare (nur in den USA) umgesetzt hat, so gar nicht kann: „Es sind meine Songs, ich habe sie geschrieben und aufgenommen, und ich habe das Copyright am Namen Boston. Weshalb ich mein Eigentum schütze. Wie eine Löwin ihre Babys.“
Worunter er eine wahre Flut von Gerichtsverfahren versteht, in die er seit rund fünf Jahren verwickelt ist, und die ihn zwar zu Anwalts Liebling, aber längst nicht zum strahlenden Gewinner machen. „Ich habe viele schmerzhafte Niederlagen einstecken müssen, die mir persönlich sehr nahe gegangen sind. Aber bei der wichtigsten Sache habe ich mich durchgesetzt.“ Nämlich bei der Klage von Delps Ex-Verlobter, die ihn für Brads Selbstmord verantwortlich ma-chen wollte – weil er kurz zuvor aus der Band geflogen war. „Ich habe Brad gefeuert, aber ich habe ihn nicht umgebracht“, so Scholz. „Das ist ein Riesenunterschied. Nur: Es ist verdammt noch mal nicht so, als wäre mir das nicht nahe gegangen.“
Das, so Scholz weiter, zeige sich auch an den Aufnahmen zum mittlerweile sechsten Boston-Album: LIFE, LOVE & HOPE hat mit insgesamt elf Jahren Produktionszeit so lange gedauert, wie kein anderes Werk in der 35-jährigen Bandgeschichte und wird von seinem Schöpfer als „traumatisches Erlebnis“ beschrieben. „Ich arbeite mit Sicherheit sehr langsam, was allein daran liegt, dass ich alles alleine mache“, so der studierte Maschinenbauer und Erfinder des Rockman-Gitarrenverstärkers. „Aber ich bin auch ein Perfektionist, was bedeutet, dass ich endlos an einer winzigen Kleinigkeit sitze und kein Ende finde. Es gibt Songs, die nie fertig werden, die ich immer und immer wieder verändere und darüber alles andere vergesse – wie meine Ehe oder das Leben an sich. Ich war zum Beispiel seit 15 Jahren nicht im Urlaub, weil ich schlichtweg nicht dazu gekommen bin. Klar, das ist nicht gesund, aber ich wüsste nicht, wie ich sonst ein Album fertig bekommen sollte – dann würde ich wahrscheinlich noch länger brauchen.“
Dabei finden sich auf LIFE, LOVE & HOPE gerade mal elf Songs, von denen drei – ›Didn’t Mean To Fall In Love‹, ›You Gave Up On Love‹ und ›Someone‹ – lediglich Neubearbeitungen von Stücken des Vorgängers CORPORATE AMERICA (2002) sind, und die zeigen, wie Scholz tickt: „Ich war mit den ursprünglichen Fassungen so unzufrieden, dass es richtig weh getan hat und ich nachts nicht schlafen konnte. Also musste ich etwas dagegen tun. Und das habe ich. Ich habe sie so lange bearbeitet, bis sie meinen Vorstellungen entsprachen. Das Ergebnis kann man hier nachhören.“ Genau wie weitere Paradebeispiele des typischen Boston-Sounds: hymnischer AOR und große, gefühlvolle Balladen. Alle mit mehrstimmigem Harmoniegesang, markanten Riffs, zischelnden Drums sowie Texten über Liebe und Hoffnung – also exakt die Mischung, die bislang 31 Millionen Käufer gefunden, ihren kommerziellen Höhepunkt in Klassikern wie ›More Than A Feeling‹ oder ›Amanda‹ erreicht hat und ein ähnliches Markenzeichen ist wie das Raumschiff in Gitarrenform, das sämtliche Plattencover ziert. „Ich mache einfach die Musik, die in mir steckt, die ich mag und die sich auch nie ändern wird. Denn ich höre keine aktuellen Sachen. Die letzten Alben, die ich mir gekauft habe, waren LED ZEPPELIN II und TRUTH von der Jeff Beck Group. Das Goldene Zeitalter des Rock’n’Roll! Das ist das Fundament, auf dem ich meine Songs schreibe. Alles andere interessiert mich nicht.“
Was erklärt, warum es keine Experimente und keine Kurskorrekturen gibt. Das Phantom schreibt in erster Linie für sich – und gibt das auch unumwunden zu: „Musik zu machen hat etwas unglaublich Therapeutisches. Sie hilft mir dabei, Dinge zu verstehen und zu verarbeiten, wie mir das sonst nie gelingen würde. Und ich bin jedes Mal sprachlos, wie viele Menschen es da draußen gibt, denen es scheinbar genauso geht. Die sich damit identifizieren können, und die wollen, dass ich immer weiter mache.“
Wozu sich Scholz in seinem Studio verschanzt und höchstens mal eine Runde Eislaufen, ins Fitnessstudio oder Fliegen geht – mit einer altmodischen Propellermaschine, die sein ganzer Stolz ist. Neben seinem Studio-Equipment versteht sich, das immer noch auf dem Stand der Mittsiebziger ist, und woran sein Besitzer auch nichts ändern will: „Ich mag keine digitalen Aufnahmen. Einfach, weil MP3s und CDs das Schlimmste sind, was es gibt. Sie klingen völlig eindimensional, flach und haben keinerlei Tiefe. Es ist, als ob man nur einen Teil dessen wahrnimmt, was da wirklich in einem Song steckt, und das ist schlichtweg falsch, weil es das Hörerlebnis zerstört. Deshalb arbeite ich weiterhin analog, weil das das einzig Wahre ist. Um das zu verstehen, müsste man sich LIFE, LOVE & HOPE einfach mal auf Vinyl anhören. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Das Schlimme ist, dass es kaum noch Magnetbänder für Tonbandmaschinen gibt. Ich habe noch exakt eine Lieferantenquelle. Wenn die irgendwann versiegt – was schon nächstes Jahr sein könnte –, mache ich den Laden dicht. Dann höre ich komplett auf mit der Musik.“
Bis es soweit ist, plant Scholz aber noch eine finale Welttournee – inklusive der ersten Deutschland-Konzerte seit 1979. „Wir hatten dort eine wahnsinnig tolle Zeit. Leider hat sich nie eine Gelegenheit ergeben, das zu wiederholen. Aus den unterschiedlichsten Gründen. Doch ich will unbedingt noch mal nach Heidelberg. Und das werde ich auch durchziehen. Wenn alles klappt, schon im Frühjahr 2014.“ Das Phantom hat gesprochen…
Marcel Anders