Neun Jahre nach ihrem letzten Album sind ZZ Top zurück – mit neuem Management, HipHop-Einflüssen, Rick Rubin an den Reglern und einer Rakete im Arsch. „Wir mussten wieder herausfinden, wie die ZZ-Methode funktioniert…“
Es ist ein heißer, schwüler Dienstagabend, und der ZZ Top-Tourbus steht hinter dem Hard Rock Casino in Hollywood, Florida. Drinnen zeigt uns Billy Gibbons, angezogen wie ein Amish-Auftragskiller, einen bi- zarren Schrein auf dem Kühlschrank – ein „Kunstwerk“, das er „Heavy Nacho“ getauft hat. Zwei Miniflaschen Xtra Hot-Chilisauce flankieren ein Polaroid-Bild von James Hetfield mit einem seltsamen Objekt auf dem Kopf. „Wir fuhren zu einem Gig in einem Casino in Alabama und kamen in strömendem Regen an“, erklärt Gibbons in seinem breiten texanischen Akzent. „Ich zog los und fand ein mexikanisches Restaurant in dieser kleinen Stadt. Als erstes kam ein riesiger Haufen Tortilla-Chips mit scharfer Sauce. Eine junge Dame, die mit uns reiste, nahm sich einen Chip, worauf mehrere ins Rutschen kamen – ein Chip, der wie ein Piratenhut aussah, landete auf dieser Gitarrenzeitschrift genau auf dem Kopf von James Hetfield. Seitdem heißt er nur noch El Pirat.“
Mit Billy Gibbons Zeit zu verbringen, ist wie sich einen Film anzusehen, der von Mark Twain gescriptet, von David Lynch inszeniert und von Hunter S. Thompson mit Drogen versorgt wur-de. Musikalisch ist der ZZ Top-Gitarrist/Sänger ein Schamane, visuell ein Konzeptkunstwerk und verbal eine Mischung aus zwielichtigem Wunderheiler, der Kultfigur Lord Buckley und einer Attraktion aus Ripley’s Believe It Or Not-Odditorium.
Gibbons ist bekannt dafür, Geschichten zu erzählen, die so, äh, ideenreich sind wie der legendäre Cowboy Pecos Bill groß war. Bill war angeblich von Coyoten aufgezogen worden, tagelang auf einem Tornado geritten und hatte alle Sterne vom Himmel geschossen – außer na- türlich dem „Lone Star“, Symbol von Texas –, nur um eine Frau zu beeindrucken. Pecos Bill Gibbons erzählt also, dass er halbjüdisch ist, um zu er- klären, warum er sich für einen deutschen Ma- nager entschieden hat. Später erläutert er seine Entdeckung des Blues mittels einer verdrehten Geschichte über eine Brieffreundschaft mit dem Redakteur eines britischen Fanzine in den 60ern und sagt, er sei irisch-englischer Abstammung. Er hat früher behauptet, er habe für Jeff Beck als Roa-die gearbeitet, von Jimi Hendrix eine rosa Stratocaster bekommen und seine knubblige Schwimmhaube (er besteht darauf, dass man sie als „Nudu“ bezeichnet) vom Stammesoberhaupt der Bamile-ke bei einem Besuch in Kamerun geerbt.
In seinem Seemannsgarn steckt jedoch fast immer ein Stückchen Wahrheit. Er war in den 60ern treu ergebener Fan von Jeff Beck. „Wir nahmen uns die Jeff Beck Group zum Vorbild“, sagt er. „Ich habe 30 Jahre gebraucht, um eine so fiese Stimme wie Rod Steward zu bekommen.“ Eine seiner früheren Bands, The Moving Sidewalks, war Vorgruppe von Jimi Hendrix, was mit einem Foto belegt werden kann. Ja, so- gar der Name der exotischen Schwimmhaube ist wahr.
Classic Rock ist in Florida, um etwas beinah Heiliges im Rock’n’Roll zu bezeugen: die mittlerweile dritte Wiederkunft der „little ol‘ band from Texas“. Angetrieben von Bill Gibbons‘ fruchtbarem Geist, haben sich ZZ Top vom schlammverkruste-ten Wanderarbeiter-Look auf RIO GRANDE MUD über den „Big Daddy Roths Backing Band“-Style von ELIMINATOR zu den aktuellen, smart gekleideten Posterboys für den hippen US-Coutu-rier John Varvatos entwickelt. Darüber hinaus haben sie auch in musikalischer Hinsicht gerade wieder bewiesen, dass sie immer noch „à la mode“ sind. Auf ihrer Digital-EP TEXICALI findet sich das dreckig stampfende ›I Gotsta Get Paid‹, ko- produziert von Rick Rubin, das ungeniert den Text der Houstoner HipHop-Hymne ›25 Lighters‹ zitiert – eine Ode an die Möglichkeiten, die einem das Dealen mit Crack eröffnet. ZZ Top und Pecos Billy G reiten wieder auf dem Tornado.
Das Hard Rock ist ein Disneyland für schwere Trinker und Spieler. Eine Lounge-Band unterhält das Publikum mit Coverversionen von Steely Dan, den Eagles und, seltsamerweise, Ritchie Black-more’s Rainbow, während ZZ Top sich vor ihrem Auftritt in ihren Garderoben entspannen. Gibbons empfängt uns barfuß und in einem stylishen Pyjama. „Das ist meine französische Reizwäsche“, grummelt er, gebeugt über den hypnotischen Schein seines Laptops. Auf dem Boden ist eine kleine Matratze mit einem Muji-Bezug. In einer Ecke steht eine silberne Schüssel voller Bio-Gemü-se, aus dem später ein radioaktiv-violett strahlen-der Cocktail wird. Neben der Tür ist ein offenes Flightcase mit orientalischen Ornamenten und einem eingerahmten Skorpion. Kleidung und Accessoires quellen aus den Schubladen.
Schlagzeuger Frank „der Mann ohne Bart“ Beard und Bassist/Sänger Dusty Hill teilen sich eine Garderobe. Beard sitzt unter einer Wolke von Zigarettenqualm mit seinem treuen Vierbeiner Gizmo. Hund und Herrchen haben dieselben eingefallenen Gesichstzüge und traurigen Augen.
Beard ist Kettenraucher aus Überzeugung. Die Becken-Hersteller Paiste haben ihm sogar ein maßgefertigtes Aschenbecher-Becken gebaut, das er als elementaren Bestandteil seines Drum-Sets ansieht. Auf die Frage, wie er mit dem Rauch-verbot klarkommt, sagt er fröhlich in schwerstem Dallas-Akzent, dass er „jeden Abend auf der Bühne“ raucht. „Wenn das noch keine Klausel im Vertrag ist, sollte es eine sein!“
Dusty Hill stürmt herüber wie Yosemite Sam auf eintägigem Hafturlaub von einer Gefängnis-Mariachi-Band. Er zeigt auf zwei Fotos auf seinem Tisch: Eines zeigt den jungen Elvis (sein Idol), das andere drei freche Kids, die zwischen Posen er- wischt wurden. „Das bin ich in Memphis“, strahlt er mit einem blendenden Satz von Filmstarzäh-nen, während er auf ein ebenso strahlendes Kind mit einem riesigen Blondschopf zeigt.
ZZ Top haben ihre Karriere durch permanentes Touren zementiert. Auch nach 40 Jahren ist ihr Terminplan prall gefüllt. „Entweder akzeptierst du dieses Leben oder nicht“, zuckt Hill mit den Schultern. „Viele Menschen sind gute Musiker, aber wollen sich der Sache nicht verschreiben, weil sie Dinge aufgeben müssen: ihr Zuhause, Beziehungen – man kann sich nicht mehr an solche Dinge binden. Ich habe nie etwas anderes als das hier gemacht. Ich weiß nicht, wie der Rest der Welt funktioniert.“
Das Vagabunden-Image der Band ist nicht nur Fassade: Erst in den 00er Jahren machten Gib-bons und Hill Zugeständnisse an ein geregelteres Leben, indem sie ihre langjährigen Freundinnen heirateten. Der einstige Bad Boy Beard hat seine Beziehung am längsten aufrecht erhalten. Er ist seit 1982 verheiratet – mit seiner dritten Frau.
Sie haben ihr Talent in den ersten Jahren durch das Ausweichen vor Pistolenkugeln und Flaschen in Bars, Kaschemmen und Stripclubs geformt und enttäuschen live äußerst selten. Das heutige Konzert in Florida bildet da keine Ausnahme. Sie legen los mit dem täuschend langsamen Schlur-fen des Sam & Dave-60s-Hits ›I Thank You‹ – dem ersten Stück auf ihrem 1979er Album DEGUEL-LO und seither jedes Konzerts – und wickeln Gib-bons‘ schleppenden Rhythmus und Hills ballern-den Bass um Beards felsenfeste Drumbeats. Das Set fühlt sich so nackt und monochrom an wie die Schwarzweißbilder aus den 60ern, die über die Bildschirme hinter ihnen flackern.
Wo ZZ Top sich einst mit ihren Liberace-meets-Gram Parsons-„Nudie“-Anzügen und Gastauftrit-ten von Dragsters, Robotern und Büffeln gefährlich Richtung Kabarett bewegten, konzentrieren sie sich heute ganz auf die Musik – auch wenn Gib-bons immer noch in seiner Rolle des verrückten Fegefeuer-Predigers aufgeht und synchronisierte Tanz-Moves sowie pelzbezogene Gitarren für ver-einzelte nostalgische Momente sorgen.
Das Publikum, befeuert von kostenlosen Cocktails, stolpert umher, gibt einander High-Fives und erwacht erst richtig zum Leben, wenn die großen Hits von ELIMINATOR gespielt werden. „Ich habe meine erste Gitarre an meinem 13. Ge-burtstag bekommen“, sagt Gibbons. „Eine Gib-son Melody Maker von 1962. Ich gab sie einem Typen ein paar Häuser weiter. Er ist heute hier und hat mir erlaubt, diese Gitarre zu spielen. Und wie zum Teufel spiele ich das Ding jetzt?“, scherzt er, bevor er die explosive Gonzo-Hymne ›Beer Drinkers & Hell Raisers‹ anstimmt. Das Konzert endet mit ›Tush‹ und ›La Grange‹.
Carl Stubner, Vorstandsvorsitzender des neuen Managements von Sanctuary, erklärt später die neue Ausrichtung der Band. „Ich war immer Fan der früheren Alben. Das Ziel war es, sie wegzube-kommen von den theatralischen, schaueffektlastigen Sachen und sie wieder zum Rock, Blues und Texicana nach Hause zu bringen …“ Gibbons for-muliert es etwas großspuriger: „Die Band ver-sucht kontinuierlich, die Eleganz des einfachen Trios auszubauen, um größere Wirkung zu er- zielen. Die beständigen und typischen Seiten des Sounds bleiben konstant. Das Hinzufügen von Kinkerlitzchen baut es dann auf. Wir sind immer noch drei Typen, die alles Mögliche ausprobieren, um es krachen zu lassen.“
Am nächsten Tag hat die Band frei in Fort Lauderdale. Die Stadt ist wie eine Mischung aus wohlhabender Rentnerkolonie und Drogenabsteige und treibt regen Handel mit starken re- zeptpflichtigen Medikamenten wie dem Schmerzmittel Oxycontin – auch bekannt als „Hillbilly-Heroin“ –, das allein 75 % des Medikamentkonsums in Florida ausmacht. Es ist nichts Ungewöhnliches, schönheitsoperierte Rentner mit Sonnenbrand zu sehen, die sich reptiliengleich auf einer der Bänke ausruhen, die die zahlreichen Schmerzkliniken bewerben.
Genau wie die Einwohner war Gibbons‘ Hotel mal hip, verfiel dann und ist nun stolz auf seinen abgewetzten Retro-Chic. Die Wände werden geziert von kitschigen Flamingo-Bildern und falschem 60s-artigem Hawaii-Tiki-Dekor. Auch wenn neun Jahre zwischen ihrem letzten Album und dem für Herbst angekündigten Nachfolger liegen, war das letzte Jahrzehnt das wohl turbu-lenteste in der kurvenreichen Karriere von ZZ Top. Es markierte das Ende ihrer Geschäftsbezie-hung zum „vierten Mitglied“ und Manager Bill Ham und ihres enttäuschenden Vertrags mit RCA Records über vier Alben.
Nicht, dass ZZ jemals von der Bildfläche ver-schwunden waren. Befreit durch Hams Weggang, hat sich Gibbons mit Gastauftritten im Fernsehen und Kollaborationen mit Jeff Beck, Al Jourgensen, Kid Rock, Queens Of The Stone Age und, na ja, Nickelback beschäftigt. Er hat auch künftige Pro-jekte mit Keith Richards und dem französischen House-Produzenten und -DJ David Guetta an- gedeutet. Aber trotzdem … neun Jahre? „Uns war ziemlich bewusst, was Leute von uns denken, und wollten kein Album veröffentlichen, das wie die letzten beiden ist“, gesteht Hill in Bezug auf XXX und MESCALERO. „Also haben wir stillgehalten, bis wir einen Groove fanden, der uns gefiel. Es wird den Leuten gefallen oder nicht. So oder so bin ich froh, dass es endlich vollbracht ist, denn es hat lange gedauert – und das tut mir leid.“
Gibbons verrät, dass er in diesen neun Jahren genug Material für vier Soloalben aufgenommen hat („verrücktes Elektronikzeug und Südstaaten-musik mit Pedal-Steel“), die er als BFG (sein zweiter Vorname ist Frederick) veröffentlichen wird, doch diese hinten angestellt hat, als Rick Rubin ins Bild kam – der Zauberer, der Karrieren wiederbelebt. „Ich kenne Rick seit Jahrzehnten“, sagt Billy. „Meine Freundin war Fleas Freundin gewesen und lud mich zu einem Rave im Ver-gnügungspark Knott’s Berry Farm ein. Rick war auch dort, und wir verstanden uns prächtig.“
Rubin produzierte damals BLOOD SUGAR SEX MAGIK der Red Hot Chili Peppers, und es stellte sich heraus, dass er nur ein paar Blocks von Gibbons entfernt am Sunset Boulevard wohnte. Sie wurden zu Gig-Kumpels. „Rick nahm mich eines Abends zu Fugazi mit. Sie waren überragend“, sagt Billy. Er und Rubin versprachen einander, zusammenzuarbeiten, doch es sollte fast 20 Jahre dauern. 2009 warf Rubin seinen Hut in den Ring und bedrängte ZZ Top, wieder ins Studio zu gehen.
Zu diesem Zeitpunkt lag ihre kommerziell er- folgreichste Phase – das Albumtrio ELIMINA-TOR, AFTERBURNER und RECYCLER – schon fast 20 Jahre zurück. Vielleicht kam es dazu, weil Gibbons und sein damaliger Tontechniker Linden Hudson versuchten, eine wissenschaftlich er- gründete Hitformel zu finden, indem sie das ihrer Meinung nach beliebteste Tempo in der Rockmu-sik, 120 bpm, nahmen und das Pumpen von Kraft-werk mit ein paar Killerriffs verbanden. Oder vielleicht war es einfach ihre Zeit. Dusty Hill hat eine schmerzhafte Erinnerung an jene Jahre. Im Dezember 1984 schoss er sich aus Versehen mit einer 38er-Kaliber-Pistole in den Bauch (ein Schreiber berichtete, dass „Dusty den Vorfall nie sah, weil sein Bart im Weg war“). „Ich war fast tot“, sagt er heute. „Die Kugel steckt immer noch in meinem Rücken, aber sie stört nicht.“
Es konnte nur bergab gehen. „Du kannst nicht immer wieder ELIMINATOR schreiben“, sagt er. „Und AFTERBURNER ist für mich Teil 2 von ELIMINATOR. Wir wussten nicht, dass ELIMI-NATOR derart abheben würde. Wir versuchten, etwas Neues zu machen. Und viele Fans waren deswegen sauer auf uns. Leute, die Alben wie TRES HOMBRES liebten, sagten: ,Was macht ihr bloß? Ihr zerstört eure Musik!‘ Und als wir uns wieder von ELIMINATOR entfernten, hieß es: ,Was ist euer fucking Problem? Uns gefällt das ELIMINATOR-Zeug!’“
Ende der 80er versagte die ZZ Top-Formel. Der Titel ihres letzten Warner-Albums RECYCLER von 1990 beschreibt die Musik darauf etwas zu treffend. Vier Jahre später verließ die Band Warner und unterschrieb bei RCA-BMG – was vielleicht nicht die klügste Entscheidung ihrer Laufbahn war, wie Billy glaubt. „Ich war nicht überzeugt davon, dass wir Warner verlassen sollten. Aber die Deutschen (BMG) wollten uns unbedingt haben und warfen mit soviel Geld nach uns, dass es schon fast lächerlich wurde (angeblich 35 Millionen Dollar). Letztendlich war es die Entschei-dung des Managements, dem Geld zu folgen.“ Und der Manager war damals immer noch der Stetson tragende Bill Ham. Der erfolglose Croo-ner und Plattenpromoter hatte ZZ 1969 „ent-deckt“, als sie aus dem Schutt zweier texanischer Psychedelic-Bands hervorgingen.
Beard und Hill aus Dallas spielten bei den Ame-rican Blues, die für ihre blauen Haare bekannt waren und die Fähigkeit, das komplette FREAK OUT!-Album der Mothers Of Invention unter dem Einfluss halluzinogener Drogen nachzu-spielen. 400 km entfernt in Houston erregte Gib-bons mit den Moving Sidewalks erste Aufmerksamkeit, landete mit ›99th Floor‹ einen lokalen Hit und wurde von Jimi Hendrix als einer der besten neuen amerikanischen Gitarristen gelobt. Keine der beiden Band konnte aber letztlich überzeugen.
Die drei Hombres fanden 1970 als ZZ Top zusammen und spielten, wo auch immer man sie ließ. „Wir traten in Kaufhäusern und bei Ta-lentwettbewerben in High Schools auf, die wir nie besucht hatten“, erinnert sich Hill. „Einmal spielten wir ein Konzert. und als der Vorhang aufging, stand da ein einziger Typ. Er hatte nicht mal eine Begleiterin. Er wollte gehen, aber wir überredeten ihn, zu bleiben, spielten 45 Minuten, machten Pause, kauften ihm eine Cola und spielten noch etwas weiter. 20 Jahre später kam er zum ausverkauften ZZ Top-Konzert im Houston Summit. Diesmal gaben wir ihm ein Bier.“
Bill Ham versprach, die Band bei London Re- cords unterzukriegen (sie wollten auf demselben Label sein wie John Mayall und die Rolling Stones). Das gelang ihm, und er trieb die Verwandlung der Band von den LSD-benebelten Freaks zu dieser „lil‘ ol‘ band from Texas“ voran, deren wuchtiger Post-Psychedelic-Boogie die USA innerhalb weniger Jahre eroberte. 1976 brach ihre legendäre „Worldwide Texas“-Tour (bei der eine ganze Reihe von Tieren wie Schlangen, Bussarde und ein Büffel auftraten) selbst die Zuschauerrekorde, die von den Beatles aufgestellt worden waren.
„Ham verband das Managertalent eines Colonel Tom Parker mit einem Rambo-Ansatz und dem Geschäftsgebahren eines Marquis de Sade“, sagte der einstige Roadie David Blayney in seiner Au-tobiografie „Sharp Dressed Men“. Ham betete ganz sicher am Altar von Parker, dem Manager von Elvis, und schützte sein Merchandising genauso ver-bissen. Gibbons, in vielerlei Hinsicht seelenver-wandt, schätzte den Wert und die Credibility der Mythenbildung. „In den 30ern sorgte die Filmindustrie in Hollywood dafür, dass die Öffentlichkeit nicht hinter die Kulissen blicken konnte“, sagt Gibbons heute. „Deshalb war es auch etwas Besonderes. Ist es wichtig, geheimnisvoll zu sein? Ja! Ist es heutzutage noch möglich? Nein!“
Ham stellte sicher, dass ZZ Top nur selten au- ßerhalb der Bühne gesichtet wurden. Sie trafen sich nicht mit anderen Musikern zum Jammen und traten nie im Fernsehen auf. „Als ich die Band zum ersten Mal traf, sagte ich ihnen: ,Ihr habt mit Bill Ham in einer etwas gestrigen Welt gelebt’“, so der neue Manager Carl Stubner, der sich auf Rebranding spezialisiert hat (jüngste Er- folge: The Cult und Fleetwood Mac). „Es gab keinen Internetauftritt, ihre Website war kaum der Rede wert. Der erste Schritt war, den Staub von ihnen abzuwischen und sie in eine glaub-würdigere Position zu bringen.“
Man gewinnt den Eindruck, dass die Band nach so vielen Jahren hinter einem Schutzpanzer sich immer noch an diese „neue Welt“ gewöhnt, die Augen reibt und an das grelle Blenden der Medienlichter gewöhnt. Auf Ham angesprochen, sind ZZ ausweichend – entweder, weil ihnen eine Vertragsklausel Verschwiegenheit befiehlt, oder weil es sie einfach nichts mehr angeht.
„Wer sonst hätte sich mehr als 30 Jahre um einen Haufen degenerierter Drogensüchtiger und Alkoholiker gekümmert?“, sagt Gibbons mit schrägem Lächeln. „Ich würde sagen, dass dieser Angestellte wesentlich daran beteiligt war, uns zusammenzuhalten. Bill war ein charismatischer Anführer mit einem echten Gespür für Songwri-ting-Talent und der Fähigkeit, drei Chaoten voran zu treiben – keine leichte Aufgabe, das kann ich dir sagen. Doch unser Verhältnis war zu einem Ende gekommen.“ Hill ist derselben Meinung: „Ich liebe Bill, aber es schien, als herrschte Still-stand. Ich hatte nichts gegen das Geheimnisvolle, denn abseits der Bühne bin ich ein zurückgezogener Mensch. Nicht zu jammen gefiel mir aber nicht, denn so habe ich gelernt, zu spielen. Es ist schön, jetzt diese Freiheit zu haben.“
Ham ging offenbar mit einem ansehnlichen Anteil an den Gewinnen. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs besitzen ZZ Top nicht die Rechte an einem Großteil ihres Materials. Wie eine wachsende Anzahl von Musikern in derselben Situation, etwa Joe Walsh (James Gang) und Def Leppard, planen sie, einige ihrer Klassiker mit einem authentischen, originalen Klang neu aufzunehmen, um die Gebühren und Tantiemen zu kassieren, wenn ihre beliebtesten Kompositionen in Film und Fernsehen verwendet werden.
Aus den RCA-Jahren mag Gibbons das Album RHYTHMEEN von 1996, das mangels Multitra-cking die „einzige reine Trio-Aufnahme, die die Band je abgeliefert hat“ ist.
Der Grundstein für die Comeback-Single ›I Gotsta Get Paid‹ wurde schon 1996 von Gibbons‘ langjährigen Technikern Joe Hardy und GL „Mane“ Moon gelegt. 1983 hatte Gibbons sich beim legendären Hou-stoner Studio Gold Star Sound Services/Foam Box Recordings eingekauft. Foam Box, die Hei-mat psychedelischer Texas-Rocker wie Sir Doug-las Quintet, Red Krayolas oder Roky Erickson, wurde in den 90ern zum Hauptquartier der ört-lichen Rap-Szene. Als Gibbons mal im Studio vorbeischaute, spielte Moon ihm ›25 Lighters‹ von den lokal bekannten Rappern DJ DMD feat. Lil Keke & Fat Pat vor. „I got 25 lighters on my dresser, yessir/I gotsta get paid“ war die Zeile, die Billys Interesse weckte. Ein Hinweis auf die gängige Praxis von Straßendealern, ihr Kokain in leeren Wegwerffeuerzeugen zu lagern, beschreibt das Lied den alltäglichen Kampf der Drogenhändler, die ihre Ware an den Mann bringen wollen.
Das Stück wurde später vom lokalen HipHop-Pionier DJ Screw „zerhackt und verdreht“, der so einen neuen Stil von Downtempo-Rap erschuf – Musik und Texte verlangsamt zu lebensüber-drüssigen Klagegesängen –, der von seiner Vorlie-be für „Purple Drank“ (ein Cocktail aus codeinhalti-gem Hustensaft und einem Softdrink wie Sprite oder Mountain Dew) und Marijuana inspiriert war. Screw starb – wahrscheinlich wegen eben jener Liebe zu Purple Drank, Valium und PCP – mit 29.
Gibbons wurde besessen davon, das Stück in eine ZZ Top-Nummer zu verwandeln. DJ Screws „zerhackt und verdreht“-Technik gab die Richtung vor: langsamer, cooler, zerschlagen und wieder zusammengesetzt. Es dauerte 14 Jahre, bis es gelang, aber das Resultat ist nun eine wuchtige Badass-Hymne mit stotternden Riffs und großen Beats. Auch wenn der Titel und der Ansatz ihren 1972er Klassiker ›Just Got Paid‹ zu zitieren schei-nen, klingen ZZ Top 40 Jahre später mit ›I Gotsta Get Paid‹ immer noch modern und relevant.
„Dieses Riff im Intro stellt seine Südstaaten-Herkunft klar in den Vordergrund“, sagt Gibbons. „Es ist eine Kombination aus HipHop und dem Blues von Lightnin‘ Hopkins, eine Hommage an diese Helden aus dem Ghetto von Houston.“
Allem Anschein nach waren ZZ Top selbst ein Teil dieser jüngeren Generation von Houstons Bad Boys. „Wir kannten diese Typen vom Abhän-gen in der Lounge des Studios, wenn wir Pause machten, ein Gemeinschaftsraum, in dem viel Seemannsgarn gesponnen wurde und alle eine gute Zeit hatten“, kichert Gibbons. „Sehr kreative Künstler aus verschiedenen Stilrichtungen. So offensichtlich es scheinen mag, geht es beim Dri-ve des HipHop nur um den Beat. Solider, bewähr-ter Backbeat-Antrieb war die Order der Stunde.“
Patrick „Fat Pat“ Lamont Hawkins, einer der Beteiligten an ›25 Lighters‹, wurde im Februar 1998 erschossen – ironischerweise, nachdem er versucht hatte, von einem Promoter Geld einzu-treiben. Gibbons stellt sicher, dass jeder in den Credits steht und bezahlt wird. „Unsere Version wird als ,Bearbeitung eingestuft“, sagt er, „wes-halb wir die Erlaubnis der Nachlassverwalter der HipHop-Autoren brauchten, die – wenig über-raschend – umgehend gegeben wurde.“ Der Titel ist der perfekte Mix aus HipHop-Rhythmen und knackigem Rock, genau die Art von Musik, für die Rick Rubin einst bekannt war. Aber diesmal nicht. „Ich hatte noch nie von dem Lied gehört“, gab der Produzent gegenüber Classic Rock zu. „Ich dachte, Billy hatte den Text geschrieben.“
Die TEXICALI-EP ist der erste Vorgeschmack auf die vielversprechende Beziehung zwischen Gibbons und Rubin und wurde auf Rubins Ge- heiß als EP veröffentlicht. „Das Management wollte eine Single rausbringen. Ich war der Mei-nung, dass die Fans gerne mehr von der Richtung des neuen Albums hören würden“, sagt Rubin. „Rick weiß, was er hören will, und hat genug Ge- duld, um zu warten – was einigen Leuten auf die Nerven geht, weil sie es für eine Hinhaltetaktik halten“, erklärt Gibbons in Anspielung auf Ge- schichten über Rubins legendär überzogene Pro-duktionstermine. „Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Er weiß, was er hören will. Es geht um den richtigen Moment. Er sagt Sachen wie: ,Ihr müsst nicht versuchen, eine bessere Band zu sein. Deshalb gingen wir drei ins Studio und ließen alles aus dem Prozess entstehen.“
„Rick gab der Band mehr Selbstvertrauen“, sagt Carl Stubner. „Nicht, dass sie unsicher gewesen wären, aber das war ihnen nicht klar.“ „Rick ist ein interessanter, vielschichtiger Typ“, sagt Dusty Hill. „Und er hat einen schönen Bart. Er steht nur nicht besonders auf Schuhe.“
Rubin ist gleichsam voll des Lobes: „ZZ Top ist die Südstaaten-Antwort auf Led Zeppelin. Reiner Blues, gefiltert durch psychedelisch gefärbten elek-trischen Rock. Gibbons ist ein echter Künstler. Er bringt die Welt ganz anders zum Ausdruck.“
Klingt nach einem einzigen großen Love-in, doch das hielt Rubin nicht davon ab, einige der ersten Demos der Band abzulehnen und sie wie-der neu anfangen zu lassen. „Das war schwer für sie, da sie das letzte Mal vor RHYTHMEEN zu- sammen im Studio gewesen waren“, gesteht er.
Sie sperrten sich im Proberaum ein und jamm-ten zum ersten Mal seit Jahren wieder zusammen als Band. „Ich denke, das war ein echtes Experi-ment um herauszufinden, wer wir eigentlich sind“, sagt Gibbons. „Rick kannte die anderen beiden nicht. Es ging um die Zukunft von ZZ Top, nicht um die vorhersehbaren Blues-Nummern, die wir aufnehmen konnten. Das war eher eine Bezie-hungs- als eine Aufnahme-Session.“
Sie kehrten nach Houston und in die Gold Star-Studios zurück und begannen ihre Sessions mit einem Gillian Welch-Lied, ›It’s Too Easy To Feel Good‹, das Rubin vorgeschlagen hatte. „Das war ein komplexes Stück, kein reiner Blues“, erinnert sich Gibbons. „Als wir beim zweiten Part anka-men, hatten wir den ersten schon wieder verges-sen. Ich brach ab, bat Frank, einen Shuffle-Beat zu spielen, und spielte ihm dann praktisch nach. Dusty sagte: ,Was ist das? Ich sagte: ,Keine Ah- nung, das fällt mir gerade ein. Wir hatten wie-der die ZZ-Art, eine Platte zu machen, geknackt.“
Letztlich gelang ihnen das Welch-Stück perfekt, und selbst der Jam wurde zu einem Lied – ›Char-treuse‹, von GL „Mane“ Moon so benannt, weil, wie Gibbons erklärt, „er keine Lieder kannte, in denen es sowohl um Schnaps als auch eine Farbe geht“. Das Album sollte drei weitere Jahre von dem benötigen, was Stubner als „Politik zwischen Rick und Billy, Billy und Dusty und Frank und mir in der Mitte“ bezeichnet. Doch diese Bezie-hung ist so erfolgreich, dass ZZ Top bei American Recordings unterschrieben und Rubin Interesse gezeigt hat, mit Gibbons auch an seinem Solo-material zu arbeiten.
Die Frage bleibt: Wieso überhaupt noch ein Album veröffentlichen in einer Zeit, in der sich mit Platten kaum noch Geld verdienen lässt, wäh-rend Bands auf dem Nostalgietrip Vermögen auf Tour verdienen können? „Die Musikindustrie hat sich verändert“, glaubt Hill. „So wie sich die Ge- schmäcker verändern, verändert sich die Techno-logie und mit ihr die Welt. Du kannst dich auch verändern – oder sitzen bleiben und verrotten. Du musst diese Dinge umarmen. Das ist für Musiker viel schwerer, aber großartig für den Verbraucher.“
„Platten verkaufen sich vielleicht nicht so gut wie einst, aber wenn du aufhörst, neues Material zu veröffentlichen, bist du tot“, warnt Stubner. „Glaubwürdigkeit ist das Wichtigste. Wie ich der Band gesagt habe, kann ich keinen Verkaufserfolg garantieren, aber lasst uns sicherstellen, dass wir großartige Kritiken bekommen.“
Es ist heißer als der Himmel, die Hölle oder Houston, als wir in Miami ankommen. Die drei Busfahrer versuchen, ihre „Hotels auf Rädern“ durch die Straße in einem Industriegebiet in einem surrealen Stadtteil namens Little Haiti zu bugsieren. Neben dem Fotostudio grunzen und schwitzen gestählte Körper in einem schicken Fitnessstudio, während die drei blassen Ritter der Straße aus ihren Bussen steigen und ins Gebäude eilen.
„Ich versuche seit einer Weile, herauszufinden, wie hip ZZ noch sind“, sagt Gibbons auf die Frage nach der wieder wachsenden Popularität seiner Band. „Frank hatte die beste Antwort pa- rat: ,Ich denke, am besten formuliert sind wir ge- gen Trends immun. Wir sind lange genug dabei geblieben, bis dieser unvorhersehbare Stil, der einzig auf Seltsamkeit beruht, uns wieder hip gemacht hat. Es ist schwer, einen Künstler zu finden, der einen ZZ Top-Song covern kann – wir sind sehr persönlichkeitsstark.“ Beschränkt so ein markanter musikalischer Stil den kreativen Horizont der Band? „ZZs Horizont kennt keine Grenzen“, sagt Gibbons. „Wir gehen in be- kannte Gefilde und finden uns genauso schnell auf unbekanntem Territorium wieder!“
In Image- und Stilfragen verlässt Beard sich ganz auf die anderen beiden. Er sieht unsicher vor der Kamera aus. „Ich bin wohl das Eckige im Runden“, sagt er. „Billy und Dusty gefällt dieses Zeug viel mehr als mir. Ich mag die Musik – der Rest ist etwas, was man tun muss.“ „Es herrscht ein in- teressanter Zwiespalt in der Band“, sagt Stubner, „denn alle drei sind sehr unterschiedliche Typen. Diese Persönlichkeiten auszubalancieren ist ein harter Job. Wie Jonglieren, Politik und Therapie.“
Wie also sind drei so verschiedene Menschen so lange so eng verbunden geblieben? Wie im- mer ist Beard ziemlich pragmatisch: „Nun, in erster Linie sind wir nur zu dritt, also muss man nur mit zwei anderen klarkommen. Wir hatten noch nie einen großen Streit über irgendetwas. Ich spiele einfach nur gerne. Ich habe noch nie daran gedacht, etwas anderes zu tun.“ „Wir kom- men alle aus ähnlichen Verhältnissen“, sagt Hill. „Schon bevor wir einander kannten, hörten wir alle denselben Radiosender, der spätabends aus Mexiko sendete, weil man nur dort Blues hören konnte. Solche Gemeinsamkeiten sind eine starke Bindung. Ich kenne Frank, fast seit ich ange-fangen habe zu spielen, und wenn ich Billy noch näher stünde, wäre ich direkt hinter ihm.“
Als das Trio wieder vor die Kamera zitiert wird, frage ich Gibbons, ob es irgendetwas gibt, das er anders gemacht hätte. Er bleibt stehen, streicht sich über seinen langen Bart, lächelt und sagt: „Etwas anders machen? Ich denke, darin sind wir schon Experten.“