Man vergisst leicht, dass Macca mehr im Lebenslauf stehen hat als die Fab Four und ›Frog Chorus‹. Daher zur Erinnerung ein ausführlicher Blick auf sein Rock‘n‘Roll-Vermächtnis.
UNSERE TITELSTORY ÜBER PAUL MCCARTNEYS POST-BEATLES-TRAUMA UND DIE ENTSTEHUNG SEINER PLATTE ‚RAM‘ LEST IHR IN DER AKTUELLEN AUSGABE VON CLASSIC ROCK.
Unverzichtbar
Paul McCartney & Wings – BAND ON THE RUN (1973)
McCartneys bestes Werk nach den Beatles war ein Triumph über diverse Widrigkeiten. Gitarrist Henry McCullough und Schlagzeuger Denny Seiwell waren ausgestiegen, kurz bevor Wings nach Nigeria reisten, um das Album einzuspielen. Vor Ort überlebten Paul und Linda dann einen Raubüberfall mitsamt Messerattacke. Doch trotz all dieser Dramen erschuf McCartney ein Meisterwerk – und das meistverkaufte Album in Großbritannien 1974. Das Titelstück wirkt wie mehrere Lieder in einem und gehört zu seinen ewigen Klassikern, ebenso wie ›Jet‹. Dazu kann man noch Maccas berühmte Freunde auf dem Cover entdecken.
Paul & Linda McCartney – RAM (1971)
Diese Platte, die einzige, auf der Paul und Lindas Namen stehen, wird von Kennern verehrt. Nach seinem in Eigenregie entstandenen Debüt fanden sich auf RAM drei weitere Musiker, darunter der zukünftige Wings-Drummer Denny Seiwell. Das Ergebnis war ein runderes, gehaltvolleres Album, wenngleich nicht annähernd so bombastisch wie ALL THINGS MUST PASS, jenes opulente Dreifach-Vinyl-Werk, das George Harrison kurz zuvor veröffentlicht hatte. Vielleicht waren die Kritiken deshalb so vernichtend. Der „Rolling Stone“ nannte es „unglaublich belanglos“. Was völliger Unsinn ist. RAM ist genial, von Anfang bis Ende.
Wunderbar
Paul McCartney – MCCARTNEY (1970)
Es erschien eine Woche nach der Ankündigung seines Ausstiegs bei den Beatles im Mai 1970: ein Soloalbum im wahrsten Sinne des Wortes. Macca nahm es in seinem Heimstudio auf und spielte sämtliche Instrumente selbst. Die einzige Unterstützung kam von Linda, die einige Harmoniegesänge beisteuerte. Was Fans wie Kritiker gleichermaßen überraschte: die lässige, unbekümmerte Natur dieser Musik. Doch selbst wenn er hier ein bisschen unter seinem Niveau zu agieren schien, fanden sich dennoch Lieder, die mit den besten der Beatles mithalten konnten.
Paul McCartney & Wings – RED ROSE SPEEDWAY (1973)
1973 war ein gutes Jahr für McCartney. Dieses zweite Wings-Album war ein Riesenhit, ebenso das Bond-Titelstück ›Live And Let Die‹ (hier nicht vertreten). An Songs mangelte es nicht, ursprünglich sollte es sogar ein Doppelalbum werden. Mit den beiden Balladenklassikern ›My Love‹ (Platz 1 in den USA) und ›Little Lamb Dragonfly‹ war es eine eher ruhige Platte. Auf der Reissue fand sich ein großartiger Bonustrack: die Single ›Hi, Hi, Hi‹, die von der BBC aufgrund angeblicher Drogen- und Sexreferenzen auf den Index gesetzt worden war.
Wings – WINGS AT THE SPEED OF SOUND (1976)
Demokratie ist überbewertet. Das war immer dann offensichtlich, wenn die Beatles Ringo ans Mikro ließen, oder als Paul den anderen Wings hier dieselbe Freiheit gewährte. Immerhin konnten diese singen. Doch Lindas Beitrag auf ›Cook Of The House‹ bewies, dass Liebe nicht nur blind, sondern auch taub machen kann. Was dieses Album rettete, waren drei fantastische Songs, gesungen von Macca selbst: ›Let ‘Em In‹, ›Silly Love Songs‹ und ›Beware My Love‹. Sieben Wochen lang belegte diese Platte Platz 1 der US-Charts.
Wings – LONDON TOWN (1978)
In einem Widerhall der Ereignisse von 1973 reduzierte der Weggang von McCulloch und English die Band für die Aufnahmen auf ein Trio aus Paul, Linda und Denny. Panik gab es deswegen keine: Während der Sessions führte ›Mull Of Kintyre‹ die britischen Charts an und verkaufte sich sogar besser als ›She Loves You‹, der größte Hit der Beatles. LONDON TOWN war ein tolles, souveränes Album und bediente sich New-Wave-artiger Synthesizer, um den Klang von ›With A Little Luck‹ und des wunderschönen Titelstücks zu modernisieren.
Anhörbar
Wings – VENUS AND MARS (1975)
Ein weiterer Millionenseller. Insgesamt war es nicht so stark wie sein Vorgänger, doch Maccas Brillanz blitzte im Singleklassiker ›Listen To What The Man Said‹ und dem einleitenden ›Venus And Mars/Rockshow‹ auf, einer ironischen Rock‘n‘Roll-Hymne, die Bezug auf Jimmy Page und Kokaindealer nahm. Dann war da noch das bizarre Ende, in dem das Medley ›Treat Her Gently/Lonely Old People‹ in eine Fassung der Titelmelodie der grausigen UK-Seifenoper „Crossroads“ überging. Deren Komponist Tony Hatch dachte, man würde sich über ihn lustig machen. Aber nicht doch.
Wings – WILD LIFE (1971)
Das Wings-Debüt kam nur sechs Monate nach RAM und wurde so zu McCartneys zweitem Album 1971. Paul und Linda hatten es eilig mit den beiden Dennys aufgenommen, diverse Tracks entstanden sogar in nur einem Take. Folglich ist es das rohste und reduzierteste Werk seiner Karriere. Das heißt aber nicht, dass es ihm an Tiefe fehlt. Auf dem stürmischen Opener ›Mumbo‹ jault Paul, als sei er wieder in eine Hamburger Spelunke zurückgekehrt, auf dem Titelstück hingegen singt er den Blues mit mehr Emotion, als die meisten weißen Rockstars aufbringen können.
Paul McCartney – MEMORY ALMOST FULL (2007)
Über die Jahre hat McCartney viele überraschende Haken geschlagen, aber die Schönheit von MEMORY ALMOST FULL liegt in seiner Schlichtheit. Es ist das Werk eines meisterhaften Songwriters, der sich wohl in seiner Haut fühlt – so sehr, dass sich darauf sogar ein Liebeslied findet: ›See Your Sunshine‹, gewidmet seiner damaligen Frau Heather Mills. Der Maestro selbst beschrieb es als „eine sehr persönliche Platte“. Mit hochemotionalen Stücken wie ›You Tell Me‹ und ›House Of Wax‹ bewies sie, dass der größte Songwriter in der Geschichte der Popmusik immer noch Teile seiner alten Magie besaß.
Sonderbar
Paul McCartney – GIVE MY REGARDS TO BROAD STREET (1984)
In der Gaunerkomödie „Give My Regards To Broad Street“ übernahm McCartney die Hauptrolle neben Ringo und dem geschätzten Darsteller Ralph Richardson. Die Kritiken fielen vernichtend aus und der Film wurde ein Riesenflop. Im Gegensatz dazu war der Soundtrack ein Erfolg und lieferte die Hitsingle ›No More Lonely Nights‹. Der Rest ist allerdings Müll, eine krude Sammlung von Beatles- und Post-Beatles-Songs, die unklugerweise neu eingespielt wurden, um den dünnen Plot des Films zu begleiten. Macca beschmutzte hier sein eigenes Vermächtnis.