In ihren 40 Jahren wurden Metallica von einer Kult-Metalband zu kommerziellen Schwergewichten und einem der größten Acts des Planeten. Doch auch jetzt, wo das neue Album 72 SEASONS in den Startlöchern steht, um weltweit die Charts zu
stürmen, sind sie immer noch wütend, immer noch unsicher.
Vormittags in Lissabon, strahlend blauer Himmel. Es ist der 21. Februar, Faschingsdienstag in der portugiesischen Hauptstadt und ein Feiertag im ganzen Land. Eine Marschkapelle spielt schon einen packenden Samba-Rhythmus an der Praça do Comercio, dem prachtvollen Promenadenplatz am Ufer des Tejo. Die Feierlustigen ziehen in ihren bunten Kostümen die Rua Serpa Pinto entlang, eine geschwungene Straße, die sich vom Platz den steilen Hügel zu den skelettartigen Ruinen des Convento do Carmo hoch windet, dessen gotische Säulen und Bögen über der Stadt aufragen wie der Kadaver eines großen, ausgeweideten Wals. Im Schatten der Klosterruine hat sich eine Menge versammelt. In ihrer Mitte ist ein einziger Musiker, der auf einer abgenutzten akustischen Gitarre eine wehklagende Melodie spielt. Der Song passt besser in die stillen Stunden einer langen, dunklen Nacht als zu einem Straßenfest – und ist sofort als ›Nothing Else Matters‹ erkennbar. Auch in ihrem 42. Jahr genießen Metallica anhaltende Allgegenwart. Ihr schieres Durchhalte- vermögen ist wahrhaft bemerkenswert. Fast 32 Jahre sind verstrichen, seit METALLICA alias das „Schwarze Album“ auf die Welt losgelassen wurde, auf dem sich ›Nothing Else Matters‹ befand, und mehr als sechs, seit sie eine Platte mit neuen Songs veröffentlicht haben. Wirklich weg waren sie jedoch nie. Im vergangenen Sommer spielten sie in ein paar Städten in Europa, darunter auch Lissabon, einige Konzerte – Headliner- Shows bei ihren eigenen Festivals. Gewissermaßen eine Einleitung für den Fanfarenstoß, der im November mit ihrer neuen Single ›Lux Aeterna‹ folgte. Zwei weitere Singles – ›Screaming Suicide‹ und ›If Darkness Had A Son‹ – erschienen dieses Jahr als Vorboten des neuen Albums 72 SEASONS, ihrem ersten seit HARDWIRED… TO SELF-DESTRUCT von 2016. Und als ob das nicht genug wäre, kommt dieser Aktivitätsschub in einer Zeit, in der die Band so angesagt ist, wie sie es in ihrer gesamten, 125 Millionen Plattenverkäufe umfassenden Karriere noch nie war.
Oder anders gesagt: Metallica reiten auf der Welle des „Stranger Things“-Effekts, genauer: jener grandiosen Szene in der letzten Folge der vierten Staffel, in der Hellfire-Club-Metalhead Eddie Munson in der Unterwelt vom Dach seines Wohnwagens ›Master Of Puppets‹ raushaut. Tatsächlich war es Tye Trujillo, der 18-jährige Sohn von Metallica-Bassist Robert, der das neu aufgenommene Riff spielte (seine Lehrerin in der dritten Klasse ist zufällig mit einem der Produzenten der Serie verheiratet). Tye nahm seinen Part in einem winzigen Studio in Venice Beach auf, wovon James Hetfield, Lars Ulrich und Kirk Hammett damals nichts wussten. Seit diese Folge von „Stranger Things“ im vergangenen Juli ausgestrahlt wurde, hat der Song auf Spotify mehr als eine halbe Milliarde Streams angehäuft. Zudem wurde die Band mit einem gewichtigen Porträt-Artikel im illustren Intellektuellen- Magazin The New Yorker gewürdigt (unter den Persönlichkeiten, denen diese Ehre in jüngerer Vergangenheit zuteil wurde, sind Salman Rushdie, die amerikanisch-iranische Konzeptkünstlerin Tala Madani und der Schweizer Entdecker Bertrand Piccard). An einem weiteren Vormittag Mitte Februar sind Lars Ulrich, Kirk Hammett und Rob Trujillo zu Hause in San Francisco respektive Honolulu und Topanga Canyon, westlich von Los Angeles. In Kalifornien ist es der Jahreszeit entsprechend mild, wie Hammett berichtet, in Hawaii dagegen regnet es horizontal.
Alle drei, vor allem Ulrich, sind entspannt und bester Laune. Das dürfen sie auch sein, denn die drei neuen Tracks wurden von den Metallica-Jüngern überwältigend positiv aufgenommen. Ihre Kombination knisternder elektrischer Energie und drangvoller Angriffslust wurde von den begleitenden Videos noch verstärkt – stylish inszenierte, auffällig markante Clips des in New York ansässigen Fotografen und Filmemachers Tim Saccenti, der auch Depeche Mode und Coldplay zu seinen Kunden zählt. Alles in der Welt von Metallica scheint gerade in absoluter Bestform zu sein, wie eine gut geölte Maschinerie. In den vergangenen Wochen hat Ulrich es sich zur Aufgabe gemacht, 72 SEASONS als Ganzes zu bewerten. Er hat es sich meistens angehört, während er aus dem Fenster eines fahrendes Autos schaute, oder beim Training zu Hause. Er mag die Songs, fügt aber den Vorbehalt hinzu: „Mehr als das habe ich noch nicht herausgefunden, um ehrlich zu sein. Ich bereite mich auf das Sperrfeuer verschiedener Meinungen vor. Und jede Meinung hat ihre Berechtigung! Wenn man sechs Jahre keine neue Musik mehr veröffentlicht hat, ist es schön, einfach den Knopf zu drücken und sie gewissermaßen aus dem Haus zu lassen. Das ist eine aufregende Zeit.“
Zumindest in seinen Anfängen nahm 72 SEASONS Gestalt an wie keine Metallica-Platte davor. Ulrich schätzt, dass die Arbeiten offiziell im Spätsommer 2020 begannen, noch mitten in der Pandemie. Alle verschanzten sich zu Hause und kommunizierten per Zoom Bis zu dem Zeitpunkt hatte er die diversen Lockdown-Phasen damit zugebracht, „herumzustolpern und mich zu fragen, ob ich mir diese Woche 40 Folgen von ‚The Crown‘ reinziehen soll“. Hammett „spielte Gitarre, und ich meditierte deutlich mehr. Was sollte ich auch sonst tun? Ach ja, und ich machte ein Soloalbum [die EP PORTALS von 2022]. Den Teil hatte ich vergessen“. Trujillo brachte sich das Kochen bei (seine Spezialität sind mexikanische Enchiladas mit einer Geheimsauce). Unterm Strich, so Ulrich, war dieses Erlebnis „ein totaler Mindfuck“.
Die eingespielten Arbeitsprozesse der Gruppe überlebten diese Qual jedoch. Der Ausgangspunkt war derselbe wie immer: Ulrich wühlte sich durch haufenweise gesammelte Aufnahmen, die bei Jamsessions im Proberaum und Soundchecks, in Hotelzimmern und beim Backstage-Aufwärmen in den Jahren seit HARDWIRED… entstanden waren, und extrahierte daraus das Grundgerüst an Ideen, das die Band dann weiterentwickelte. Ein Fetzen von einem Riff hier, der Anflug einer Gegenmelodie dort. Das alles wurde durch die Linse des Fünf-Sterne-Bewertungssystems des Schlagzeugers analysiert: Alles mit vier oder fünf Sternen bekam größere Aufmerksamkeit geschenkt, die Einser und Zweier hat er verworfen. „Bei Metallica ist es nie so, dass jemand auf der Couch eine Akustische in die Hand nimmt und – boom! – da ist ein Song“, erklärt Ulrich. „Das sind viele Puzzlestücke, die zusammengesetzt werden. Dann hörten wir uns bei unseren Zoom-Sessions die Sachen an, die wir herausgepickt hatten, und jammten darauf, am Bildschirm in unseren Heimstudios oder in provisorisch eingerichteten Musikzimmern. Wir mussten darauf klarkommen, Musik zu machen, auch wenn es eine zweisekündige Verschiebung gibt. Ich spielte einen Beat und James legte ein Riff drüber. Er konnte zumindest in seinen Anfängen nahm 72 SEASONS Gestalt an wie keine Metallica-Platte davor. Ulrich schätzt, dass die Arbeiten offiziell im Spätsommer 2020 begannen, noch mitten in der Pandemie.
Alle verschanzten sich zu Hause und kommunizierten Bis zu dem Zeitpunkt hatte er die diversen Lockdown-Phasen damit zugebracht, „herumzustolpern und mich zu fragen, ob ich mir diese Woche 40 Folgen von ‚The Crown‘ reinziehen soll“. Hammett „spielte Gitarre, und ich meditierte deutlich mehr. Was sollte ich auch sonst tun? Ach ja, und ich machte ein Soloalbum [die EP PORTALS von 2022]. Den Teil hatte ich vergessen“. Trujillo brachte sich das Kochen bei (seine Spezialität sind mexikanische Enchiladas mit einer Geheimsauce). Unterm Strich, so Ulrich, war dieses Erlebnis. Die eingespielten Arbeitsprozesse der Gruppe überlebten diese Qual jedoch. Der Ausgangspunkt war derselbe wie immer: Ulrich wühlte sich durch haufenweise gesammelte Aufnahmen, die bei Jamsessions im Proberaum und Soundchecks, in Hotelzimmern und beim Backstage-Aufwärmen in den Jahren seit HARDWIRED… entstanden waren, und extrahierte daraus das Grundgerüst an Ideen, das die Band dann weiterentwickelte. Ein Fetzen von einem Riff hier, der Anflug einer Gegenmelodie dort. Das alles wurde durch die Linse des Fünf-Sterne-Bewertungssystems des Schlagzeugers analysiert: Alles mit vier oder fünf Sternen bekam größere Aufmerksamkeit geschenkt, die Einser und Zweier „Bei Metallica ist es nie so, dass jemand auf der Couch eine Akustische in die Hand nimmt und – boom! – da ist ein Song“, erklärt Ulrich. „Das sind viele Puzzlestücke, die zusammengesetzt werden. Dann hörten wir uns bei unseren Zoom-Sessions die Sachen an, die wir herausgepickt hatten, und jammten darauf, am Bildschirm in unseren Heimstudios oder in provisorisch eingerichteten Musikzimmern.“
Wir mussten darauf klarkommen, Musik zu machen, auch wenn es eine zweisekündige Verschiebung gibt. Ich spielte einen Beat und James legte ein Riff drüber. Er konnte umgehen“, sagt er. „Wir hören einander mehr zu. Es gibt weniger ‚Fick dich!‘ und mehr ‚Das klingt interessant, lasst es uns auf deine Weise versuchen‘.“ „Als wir über Zoom arbeiteten, verflog viel von dieser seltsamen Energie und Chemie“, fügt Hammett hinzu. „Das war immer noch da, aber nicht so stark. So viele der großartigen Dinge, die uns als Gruppe passieren, sind das Ergebnis von uns vieren in einem Raum. Ideen sind eigentlich keine Herausforderung für uns. Wir vier haben haufenweise fucking großartige Ideen.“ Von Anfang bis Ende nahm 72 SEASONS letztlich zwei Jahre in Anspruch. Das Debüt KILL ‘EM ALL stellte man damals im März 1983 in gut zwei Wochen fertig. „Ein Vorteil des Älterwerdens ist, dass man mehr Erfahrung hat, und ein Nachteil, dass man mehr Optionen hat“, so Ulrich. „Je mehr Optionen man hat, desto länger dauert es, denn man spürt dieses Verlangen, jede einzelne davon durchzugehen. Man kann einen ganzen Tag damit zubringen, neun Alternativen auf eine oder zwei zu reduzieren. Und natürlich gibt es dann einen Teil von dir, der romantisiert, wie du das mit 22 instinktiv gemacht hast, ohne darüber fucking nachdenken zu müssen.“